Entscheidungsstichwort (Thema)
Vorsteuerberichtigung, Nachträgliche Einstufung eines Umsatzes als steuerfrei, Vorsteuerabzug aus zunächst als unzutreffend steuerpflichtig behandeltem Eingangsumsatz
Leitsatz (amtlich)
1. Art. 184 der Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom 28. November 2006 über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem ist dahin auszulegen, dass die darin aufgestellte Pflicht zur Berichtigung zu Unrecht vorgenommener Vorsteuerabzüge auch dann besteht, wenn der ursprüngliche Vorsteuerabzug überhaupt nicht hätte erfolgen dürfen, weil der ihm zugrunde liegende Umsatz von der Mehrwertsteuer befreit war. Dagegen sind die Art. 187 bis 189 der Richtlinie 2006/112 dahin auszulegen, dass der darin vorgesehene Mechanismus zur Berichtigung zu Unrecht vorgenommener Vorsteuerabzüge in solchen Fällen nicht anwendbar ist, insbesondere dann, wenn wie im Ausgangsverfahren der ursprüngliche Vorsteuerabzug nicht gerechtfertigt war, weil es sich um eine von der Mehrwertsteuer befreite Lieferung von Grundstücken handelte.
2. Art. 186 der Richtlinie 2006/112 ist dahin auszulegen, dass die Mitgliedstaaten in Fällen, in denen der ursprüngliche Vorsteuerabzug überhaupt nicht hätte erfolgen dürfen, den Zeitpunkt, zu dem die Pflicht zur Berichtigung des zu Unrecht vorgenommenen Vorsteuerabzugs entsteht, und den Zeitraum, für den die Berichtigung zu erfolgen hat, unter Wahrung der Grundsätze des Unionsrechts, insbesondere der Grundsätze der Rechtssicherheit und des Vertrauensschutzes, festzulegen haben. Das nationale Gericht hat zu prüfen, ob diese Grundsätze in einem Fall wie dem des Ausgangsverfahrens gewahrt werden.
Normenkette
EGRL 112/2006 Art. 184, 186
Beteiligte
Valstybine mokesciu inspekcija prie Lietuvos Respublikos finansu ministerijos |
Verfahrensgang
Lietuvos vyriausiasis (Litauen) (Beschluss vom 03.10.2016; ABl. EU 2017, Nr. C 6/28) |
Tatbestand
„Vorlage zur Vorabentscheidung ‐ Gemeinsames Mehrwertsteuersystem ‐ Beschränkung des Rechts auf Vorsteuerabzug ‐ Berichtigung des Vorsteuerabzugs ‐ Lieferung eines Grundstücks ‐ Fälschliche Einstufung als ‚steuerpflichtige Tätigkeit‘ ‐ Angabe der Steuer auf der ursprünglichen Rechnung ‐ Änderung dieser Angabe durch den Lieferer“
In der Rechtssache C-532/16
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Lietuvos vyriausiasis administracinis teismas (Oberstes Verwaltungsgericht von Litauen) mit Entscheidung vom 3. Oktober 2016, beim Gerichtshof eingegangen am 18. Oktober 2016, in dem Verfahren
Valstybine mokesciu inspekcija prie Lietuvos Respublikos finansu ministerijos
gegen
SEB bankas AB
erlässt
DER GERICHTSHOF (Erste Kammer)
unter Mitwirkung der Kammerpräsidentin R. Silva de Lapuerta sowie der Richter J.-C. Bonichot (Berichterstatter), A. Arabadjiev, S. Rodin und E. Regan,
Generalanwalt: M. Bobek,
Kanzler: M. Aleksejev, Verwaltungsrat,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 4. Oktober 2017,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
‐ der SEB bankas AB, vertreten durch M. Bielskiene als Beraterin im Beistand von A. Medeliene, advokate,
‐ der litauischen Regierung, vertreten durch D. Kriauciunas, R. Krasuckaite und J. Prasauskiene als Bevollmächtigte,
‐ der Europäischen Kommission, vertreten durch L. Lozano Palacios und J. Jokubauskaite als Bevollmächtigte,
nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 20. Dezember 2017
folgendes
Urteil
Rz. 1
Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung der Art. 184 bis 186 der Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom 28. November 2006 über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem (ABl. 2006, L 347, S. 1, im Folgenden: Mehrwertsteuerrichtlinie).
Rz. 2
Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen der Valstybine mokesciu inspekcija prie Lietuvos Respublikos finansu ministerijos (Steuerinspektion beim Finanzministerium der Republik Litauen) (im Folgenden: Steuerverwaltung) und der SEB bankas AB über eine Steuernacherhebung bei diesem Unternehmen, um den von ihm vorgenommenen Abzug der anlässlich des Erwerbs von Grundstücken entrichteten Vorsteuer zu berichtigen.
Rechtlicher Rahmen
Unionsrecht
Rz. 3
Art. 12 Abs. 1 Buchst. b der Mehrwertsteuerrichtlinie bestimmt:
„(1) Die Mitgliedstaaten können Personen als Steuerpflichtige betrachten, die gelegentlich eine der in Artikel 9 Absatz 1 Unterabsatz 2 genannten Tätigkeiten ausüben und insbesondere einen der folgenden Umsätze bewirken:
…
b) Lieferung von Baugrundstücken.“
Rz. 4
Art. 135 Abs. 1 Buchst. k der Mehrwertsteuerrichtlinie lautet:
„(1) Die Mitgliedstaaten befreien folgende Umsätze von der Steuer:
…
k) Lieferung unbebauter Grundstücke mit Ausnahme von Baugrundstücken im Sinne des Artikels 12 Absatz 1 Buchstabe b“.
Rz. 5
Art. 179 der Mehrwertsteuerrichtlinie sieht vor:
„Der Vorsteuerabzug wird vom Steuerpflichtigen global vorgenommen, indem er von dem Steuerbetrag, den er für einen Steuerzeitraum schuldet, den Betrag der Mehrwertsteuer absetzt, für die während des gleichen Steuerzeitraums das Abzugsrecht entstanden ist...