Entscheidungsstichwort (Thema)
Vorlage zur Vorabentscheidung. Soziale Sicherheit. Wanderarbeitnehmer. Familienleistungen. Leistungen bei Krankheit. Geltungsbereich. Pflegekarenzgeld. Staatsangehöriger eines Mitgliedstaats, der in einem anderen Mitgliedstaat wohnt und arbeitet und einen Familienangehörigen in seinem Herkunftsmitgliedstaat pflegt. Akzessorietät zum Pflegegeld. Gleichbehandlung
Normenkette
Verordnung (EG) Nr. 883/2004 Art. 3-4
Beteiligte
Tenor
1.Art. 3 Abs. 1 Buchst. a der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit
ist dahin auszulegen, dass
der Begriff „Leistungen bei Krankheit“ im Sinne dieser Bestimmung ein Pflegekarenzgeld an einen Arbeitnehmer umfasst, der gegen Entfall des Arbeitsentgelts zur Betreuung oder Pflege eines nahen Angehörigen, der in einem anderen Mitgliedstaat Pflegegeld bezieht, karenziert wird. Folglich fällt diese Leistung auch unter den Begriff „Geldleistung“ im Sinne dieser Verordnung.
2.Art. 45 Abs. 2 AEUV, Art. 4 der Verordnung Nr. 883/2004 und Art. 7 Abs. 2 der Verordnung (EU) Nr. 492/2011 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 5. April 2011 über die Freizügigkeit der Arbeitnehmer innerhalb der Union
sind dahin auszulegen, dass
sie einer Regelung eines Mitgliedstaats, nach der die Zuerkennung von Pflegekarenzgeld davon abhängig gemacht wird, dass die pflegebedürftige Person nach den Rechtsvorschriften dieses Mitgliedstaats Pflegegeld einer bestimmten Pflegestufe bezieht, entgegenstehen, es sei denn, diese Voraussetzung ist objektiv durch ein legitimes Ziel gerechtfertigt, das insbesondere der Erhaltung des finanziellen Gleichgewichts des nationalen Systems der sozialen Sicherheit dient, und stellt eine verhältnismäßige Maßnahme zur Erreichung dieses Ziels dar.
3.Art. 4 der Verordnung Nr. 883/2004
ist dahin auszulegen, dass
er einer nationalen Regelung oder Rechtsprechung, die zum einen die Zuerkennung von Pflegekarenzgeld bzw. Pflegekarenzgeld aus dem Titel der Familienhospizkarenz an unterschiedliche Voraussetzungen knüpft und es zum anderen nicht erlaubt, einen Antrag auf Pflegekarenz in einen Antrag auf Familienhospizkarenz umzudeuten, nicht entgegensteht.
Tatbestand
In der Rechtssache C-116/23
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Bundesverwaltungsgericht (Österreich) mit Beschluss vom 23. Februar 2023, beim Gerichtshof eingegangen am 27. Februar 2023, in dem Verfahren
XXXX,
Beteiligter:
Sozialministeriumservice,
erlässt
DER GERICHTSHOF (Siebte Kammer)
unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten F. Biltgen sowie des Richters N. Wahl und der Richterin M. L. Arastey Sahún (Berichterstatterin),
Generalanwalt: J. Richard de la Tour,
Kanzler: A. Calot Escobar,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
- – von XXXX, vertreten durch K. Mayr und D. Menkovic als Bevollmächtigte,
- – der österreichischen Regierung, vertreten durch J. Schmoll und C. Leeb als Bevollmächtigte,
- – der tschechischen Regierung, vertreten durch M. Smolek und J. Vláčil als Bevollmächtigte,
- – der Europäischen Kommission, vertreten durch F. Clotuche-Duvieusart und B.-R. Killmann als Bevollmächtigte,
aufgrund des nach Anhörung des Generalanwalts ergangenen Beschlusses, ohne Schlussanträge über die Rechtssache zu entscheiden,
folgendes
Urteil
Entscheidungsgründe
Rz. 1
Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 18 AEUV, Art. 7 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta), der Art. 3, 4, 7 und 21 der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit (ABl. 2004, L 166, S. 1, berichtigt in ABl. 2004, L 200, S. 1) sowie des Effektivitätsgrundsatzes.
Rz. 2
Es ergeht in einem Rechtsstreit zwischen XXXX und dem Sozialministeriumservice (Österreich) über die Weigerung des Sozialministeriumservice, XXXX Pflegekarenzgeld zuzuerkennen.
Rechtlicher Rahmen
Unionsrecht
Verordnung Nr. 883/2004
Rz. 3
Die Erwägungsgründe 8, 9, 12 und 16 der Verordnung Nr. 883/2004 lauten:
„(8) Der allgemeine Grundsatz der Gleichbehandlung ist für Arbeitnehmer, die nicht im Beschäftigungsmitgliedstaat wohnen, einschließlich Grenzgängern, von besonderer Bedeutung.
(9) Der Gerichtshof hat mehrfach zur Möglichkeit der Gleichstellung von Leistungen, Einkünften und Sachverhalten Stellung genommen; dieser Grundsatz sollte explizit aufgenommen und ausgeformt werden, wobei Inhalt und Geist der Gerichtsentscheidungen zu beachten sind.
…
(12) Im Lichte der Verhältnismäßigkeit sollte sichergestellt werden, dass der Grundsatz der Gleichstellung von Sachverhalten oder Ereignissen nicht zu sachlich nicht zu rechtfertigenden Ergebnissen oder zum Zusammentreffen von Leistungen gleicher Art für denselben Zeitraum führt.
…
(16) Innerhalb der Gemeinschaft ist es grundsätzlich nicht gerechtfertigt, Ansprüche der...