Entscheidungsstichwort (Thema)
Vorlage zur Vorabentscheidung. Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts. Gemeinsame Asylpolitik. Voraussetzungen für die Anerkennung als Flüchtling. Verfolgungsgründe. ‚Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe‘. Individuelle Prüfung der Tatsachen und Umstände. Anforderungen an die Prüfung von Anträgen auf internationalen Schutz. Wohl des Kindes. Bestimmung. Minderjährige Drittstaatsangehörige, die sich infolge ihres Aufenthalts in einem Mitgliedstaat mit dem Grundwert der Gleichheit von Frauen und Männern identifizieren
Normenkette
EURL 95/2011; EURL 95/2011 Art. 2 Buchst. d, e, Art. 10 Abs. 1 Buchst. d, Abs. 2, Art. 4; Richtlinie 2013/32/EU Art. 10 Abs. 3; Charta der Grundrechte der Europäischen Union Art. 24 Abs. 2
Beteiligte
Staatssecretaris van Justitie en Veiligheid (Femmes s’identifiant à la valeur de l’égalité entre les sexes) |
Staatssecretaris van Justitie en Veiligheid |
Tenor
1.Art. 10 Abs. 1 Buchst. d und Abs. 2 der Richtlinie 2011/95/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Dezember 2011 über Normen für die Anerkennung von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Personen mit Anspruch auf internationalen Schutz, für einen einheitlichen Status für Flüchtlinge oder für Personen mit Anrecht auf subsidiären Schutz und für den Inhalt des zu gewährenden Schutzes
ist dahin auszulegen, dass
je nach den Gegebenheiten im Herkunftsland Frauen, auch minderjährige, die Staatsangehörige dieses Landes sind und als gemeinsames Merkmal ihre tatsächliche Identifizierung mit dem Grundwert der Gleichheit von Frauen und Männern teilen, zu der es im Zuge ihres Aufenthalts in einem Mitgliedstaat gekommen ist, als einer „bestimmten sozialen Gruppe“ zugehörig angesehen werden können, im Sinne eines „Verfolgungsgrundes“, der zur Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft führen kann.
2.Art. 24 Abs. 2 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union
ist dahin auszulegen, dass
er es der zuständigen nationalen Behörde verwehrt, über einen von einem Minderjährigen gestellten Antrag auf internationalen Schutz zu entscheiden, ohne das Wohl des Minderjährigen im Rahmen einer individuellen Prüfung konkret bestimmt zu haben.
Tatbestand
In der Rechtssache C-646/21
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht von der Rechtbank Den Haag, zittingsplaats ’s-Hertogenbosch (Bezirksgericht Den Haag, Sitzungsort ’s-Hertogenbosch, Niederlande), mit Entscheidung vom 22. Oktober 2021, beim Gerichtshof eingegangen am 25. Oktober 2021, in dem Verfahren
K,
L
gegen
Staatssecretaris van Justitie en Veiligheid
erlässt
DER GERICHTSHOF (Große Kammer)
unter Mitwirkung des Präsidenten K. Lenaerts, des Vizepräsidenten L. Bay Larsen, der Kammerpräsidenten A. Arabadjiev, C. Lycourgos, E. Regan, F. Biltgen und N. Piçarra (Berichterstatter) sowie des Richters P. G. Xuereb, der Richterin L. S. Rossi, der Richter I. Jarukaitis, A. Kumin, N. Jääskinen und N. Wahl, der Richterin I. Ziemele und des Richters J. Passer,
Generalanwalt: A. M. Collins,
Kanzler: A. Lamote, Verwaltungsrätin,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 18. April 2023,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
- – von K und L, vertreten durch B. W. M. Toemen und Y. E. Verkouter, Advocaten, im Beistand der Sachverständigen S. Rafi,
- – der niederländischen Regierung, vertreten durch M. K. Bulterman, A. Hanje und A. M. de Ree als Bevollmächtigte,
- – der tschechischen Regierung, vertreten durch L. Halajová, M. Smolek und J. Vláčil als Bevollmächtigte,
- – der griechischen Regierung, vertreten durch M. Michelogiannaki und T. Papadopoulou als Bevollmächtigte,
- – der spanischen Regierung, vertreten durch A. Gavela Llopis und A. Pérez-Zurita Gutiérrez als Bevollmächtigte,
- – der französischen Regierung, vertreten durch A.-L. Desjonquères und J. Illouz als Bevollmächtigte,
- – der ungarischen Regierung, vertreten durch Zs. Biró-Tóth und M. Z. Fehér als Bevollmächtigte,
- – der Europäischen Kommission, vertreten durch A. Azéma und F. Wilman als Bevollmächtigte,
nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 13. Juli 2023
folgendes
Urteil
Entscheidungsgründe
Rz. 1
Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 24 Abs. 2 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta) und Art. 10 Abs. 1 Buchst. d und Abs. 2 der Richtlinie 2011/95/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Dezember 2011 über Normen für die Anerkennung von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Personen mit Anspruch auf internationalen Schutz, für einen einheitlichen Status für Flüchtlinge oder für Personen mit Anrecht auf subsidiären Schutz und für den Inhalt des zu gewährenden Schutzes (ABl. 2011, L 337, S. 9).
Rz. 2
Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen K und L auf der einen und dem Staatssecretaris van Justitie en Veiligheid (Staatssekretär für Justiz und Sicherheit, Niederlande) auf der anderen Seite übe...