Entscheidungsstichwort (Thema)
Vorlage zur Vorabentscheidung. Sozialpolitik. Massenentlassungen. Information und Konsultation der Arbeitnehmervertreter. Anwendungsbereich. Beendigungen von Arbeitsverträgen aufgrund des Eintritts des Arbeitgebers in den Ruhestand
Normenkette
Richtlinie 98/59/EG; Richtlinie 98/59/EG Art. 1 Abs. 1 Buchst. a, Art. 2; Charta der Grundrechte der Europäischen Union Art. 27, 30
Beteiligte
Fondo de Garantía Salarial (Fogasa) |
Tenor
1.Art. 1 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 2 der Richtlinie 98/59/EG des Rates vom 20. Juli 1998 zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über Massenentlassungen
ist dahin auszulegen, dass
er einer nationalen Regelung entgegensteht, nach der die Beendigung der Arbeitsverträge einer Zahl von Arbeitnehmern, die die in diesem Art. 1 Abs. 1 vorgesehene übersteigt, aufgrund des Eintritts des Arbeitgebers in den Ruhestand nicht als „Massenentlassung“ eingestuft wird und daher nicht zu der in diesem Art. 2 vorgesehenen Information und Konsultation der Arbeitnehmervertreter führt.
2.Das Unionsrecht ist dahin auszulegen, dass es ein mit einem Rechtsstreit zwischen Privaten befasstes nationales Gericht nicht verpflichtet, eine nationale Regelung wie die in Nr. 1 des vorliegenden Tenors angeführte unangewendet zu lassen, wenn sie mit Art. 1 Abs. 1 und Art. 2 der Richtlinie 98/59 unvereinbar ist.
Tatbestand
In der Rechtssache C-196/23 [Plamaro](
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Tribunal Superior de Justicia de Cataluña (Obergericht Katalonien, Spanien) mit Entscheidung vom 20. Januar 2023, beim Gerichtshof eingegangen am 24. März 2023, in dem Verfahren
CL,
GO,
GN,
VO,
TI,
HZ,
DN,
DL
gegen
DBin ihrer Eigenschaft als Alleinerbin von FC,
Fondo de Garantía Salarial (Fogasa)
erlässt
DER GERICHTSHOF (Zweite Kammer)
unter Mitwirkung der Kammerpräsidentin A. Prechal (Berichterstatterin), der Richter F. Biltgen, N. Wahl und J. Passer sowie der Richterin M. L. Arastey Sahún,
Generalanwalt: P. Pikamäe,
Kanzler: A. Calot Escobar,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
- – von CL, GO, GN, VO, TI, HZ, DN und DL, vertreten durch J. M. Moragues Martínez, Abogado,
- – von DB in ihrer Eigenschaft als Alleinerbin von FC, vertreten durch L. Sánchez Frías, Abogado,
- – der spanischen Regierung, vertreten durch M. Morales Puerta als Bevollmächtigte,
- – der Europäischen Kommission, vertreten durch F. Clotuche-Duvieusart und I. Galindo Martín als Bevollmächtigte,
aufgrund des nach Anhörung des Generalanwalts ergangenen Beschlusses, ohne Schlussanträge über die Rechtssache zu entscheiden,
folgendes
Urteil
Entscheidungsgründe
Rz. 1
Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung der Richtlinie 98/59/EG des Rates vom 20. Juli 1998 zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über Massenentlassungen (ABl. 1998, L 225, S. 16).
Rz. 2
Es ergeht in einem Rechtsstreit zwischen CL, GO, GN, VO, TI, HZ, DN und DL auf der einen Seite und DB, der Alleinerbin ihres ehemaligen Arbeitgebers FC, und dem Fondo de Garantía Salarial (Fogasa) [Lohngarantiefonds (Fogasa), Spanien] auf der anderen Seite über die Beendigung ihrer Arbeitsverträge anlässlich des Eintritts von FC in den Ruhestand.
Rechtlicher Rahmen
Unionsrecht
Rz. 3
Art. 1 Abs. 1 in Teil I („Begriffsbestimmungen und Anwendungsbereich“) der Richtlinie 98/59 bestimmt:
„Für die Durchführung dieser Richtlinie gelten folgende Begriffsbestimmungen:
a) ‚Massenentlassungen‘ sind Entlassungen, die ein Arbeitgeber aus einem oder mehreren Gründen, die nicht in der Person der Arbeitnehmer liegen, vornimmt und bei denen – nach Wahl der Mitgliedstaaten – die Zahl der Entlassungen
i) entweder innerhalb eines Zeitraums von 30 Tagen
- – mindestens 10 in Betrieben mit in der Regel mehr als 20 und weniger als 100 Arbeitnehmern,
- – mindestens 10 v. H. der Arbeitnehmer in Betrieben mit in der Regel mindestens 100 und weniger als 300 Arbeitnehmern,
- – mindestens 30 in Betrieben mit in der Regel mindestens 300 Arbeitnehmern,
ii) oder innerhalb eines Zeitraums von 90 Tagen mindestens 20, und zwar unabhängig davon, wie viele Arbeitnehmer in der Regel in dem betreffenden Betrieb beschäftigt sind,
beträgt;
…
Für die Berechnung der Zahl der Entlassungen gemäß Absatz 1 Buchstabe a) werden diesen Entlassungen Beendigungen des Arbeitsvertrags gleichgestellt, die auf Veranlassung des Arbeitgebers und aus einem oder mehreren Gründen, die nicht in der Person der Arbeitnehmer liegen, erfolgen, sofern die Zahl der Entlassungen mindestens fünf beträgt.“
Rz. 4
Art. 2 in Teil II („Information und Konsultation“) der Richtlinie sieht vor:
„(1) Beabsichtigt ein Arbeitgeber, Massenentlassungen vorzunehmen, so hat er die Arbeitnehmervertreter rechtzeitig zu konsultieren, um zu einer Einigung zu gelangen.
(2) Diese Konsultationen erstrecken sich zumindest auf die Möglichkeit, Massenentlassungen zu vermeiden oder zu beschränken...