Entscheidungsstichwort (Thema)
Vertragsverletzung eines Mitgliedstaats. Einzelstaatliche Entschädigungsregelungen, die eine gerechte und angemessene Entschädigung der Opfer vorsätzlich begangener Gewalttaten gewährleisten. Einzelstaatliche Regelung, die nicht alle im Inland vorsätzlich begangenen Gewalttaten erfasst
Normenkette
Richtlinie 2004/80/EG Art. 12 Abs. 2
Beteiligte
Tenor
1. Die Italienische Republik hat dadurch gegen ihre Verpflichtungen aus Art. 12 Abs. 2 der Richtlinie 2004/80/EG des Rates vom 29. April 2004 zur Entschädigung der Opfer von Straftaten verstoßen, dass sie nicht alle Maßnahmen ergriffen hat, die erforderlich sind, um sicherzustellen, dass in grenzüberschreitenden Fällen eine Regelung für die Entschädigung der Opfer aller in ihrem Hoheitsgebiet vorsätzlich begangenen Gewalttaten besteht.
2. Die Italienische Republik trägt ihre eigenen Kosten und die der Europäischen Kommission entstandenen Kosten.
3. Der Rat der Europäischen Union trägt seine eigenen Kosten.
Tatbestand
In der Rechtssache
betreffend eine Vertragsverletzungsklage nach Art. 258 AEUV, eingereicht am 22. Dezember 2014,
Europäische Kommission, vertreten durch E. Traversa und F. Moro als Bevollmächtigte, Zustellungsanschrift in Luxemburg,
Klägerin,
unterstützt durch
Rat der Europäischen Union, vertreten durch E. Moro, M. Chavrier und K. Pleśniak als Bevollmächtigte,
Streithelfer,
gegen
Italienische Republik, vertreten durch G. Palmieri als Bevollmächtigte im Beistand von G. Palatiello und E. De Bonis, avvocati dello Stato, Zustellungsanschrift in Luxemburg,
Beklagte,
erlässt
DER GERICHTSHOF (Große Kammer)
unter Mitwirkung des Präsidenten K. Lenaerts, des Vizepräsidenten A. Tizzano, der Kammerpräsidenten L. Bay Larsen, T. von Danwitz, J. L. da Cruz Vilaça und E. Juhász, der Kammerpräsidentinnen M. Berger (Berichterstatterin) und A. Prechal, der Kammerpräsidenten M. Vilaras und E. Regan sowie der Richter A. Rosas, A. Borg Barthet, J. Malenovský, D. Šváby und C. Lycourgos,
Generalanwalt: Y. Bot,
Kanzler: L. Carrasco Marco, Verwaltungsrätin,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 29. Februar 2016,
nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 12. April 2016
folgendes
Urteil
Entscheidungsgründe
Rz. 1
Mit ihrer Klage beantragt die Europäische Kommission, festzustellen, dass die Italienische Republik dadurch gegen ihre Verpflichtungen aus Art. 12 Abs. 2 der Richtlinie 2004/80/EG des Rates vom 29. April 2004 zur Entschädigung der Opfer von Straftaten (ABl. 2004, L 261, S. 15) verstoßen hat, dass sie nicht alle Maßnahmen ergriffen hat, die erforderlich sind, um sicherzustellen, dass eine Regelung für die Entschädigung der Opfer aller in ihrem Hoheitsgebiet vorsätzlich begangenen Gewalttaten besteht.
Rechtlicher Rahmen
Unionsrecht
Rz. 2
Die Erwägungsgründe 1 bis 3, 6 und 7 der Richtlinie 2004/80 lauten:
„(1) Die Beseitigung der Hindernisse für den freien Personen- und Dienstleistungsverkehr zwischen den Mitgliedstaaten gehört zu den Zielen der [Union].
(2) Nach dem Urteil [vom 2. Februar 1989, Cowan (C-186/87, EU:C:1989:47),] ist es, wenn das [Unions]recht einer natürlichen Person die Freiheit garantiert, sich in einen anderen Mitgliedstaat zu begeben, zwingende Folge dieser Freizügigkeit, dass Leib und Leben dieser Person in dem betreffenden Mitgliedstaat in gleicher Weise geschützt sind, wie dies bei den eigenen Staatsangehörigen und den in diesem Staat wohnhaften Personen der Fall ist. Zur Verwirklichung dieses Ziels sollten unter anderem Maßnahmen ergriffen werden, um die Entschädigung der Opfer von Straftaten zu erleichtern.
(3) Der Europäische Rat hat auf seiner Tagung am 15. und 16. Oktober 1999 in Tampere dazu aufgerufen, Mindeststandards für den Schutz der Opfer von Verbrechen – insbesondere hinsichtlich deren Zugang zum Recht und ihrer Schadensersatzansprüche, einschließlich der Prozesskosten – auszuarbeiten.
…
(6) Opfer von Straftaten in der Europäischen Union sollten unabhängig davon, an welchem Ort in der Europäischen [Union] die Straftat begangen wurde, Anspruch auf eine gerechte und angemessene Entschädigung für die ihnen zugefügte Schädigung haben.
(7) Mit dieser Richtlinie wird ein System der Zusammenarbeit eingeführt, damit Opfer von Straftaten in grenzüberschreitenden Fällen leichter Zugang zur Entschädigung erhalten; dieses System sollte sich auf die Regelungen der Mitgliedstaaten für die Entschädigung der Opfer von in ihrem Hoheitsgebiet vorsätzlich begangenen Gewalttaten stützen. Daher sollte es in allen Mitgliedstaaten eine Entschädigungsregelung geben.”
Rz. 3
Art. 1 der Richtlinie 2004/80, der zu Kapitel I „Zugang zur Entschädigung in grenzüberschreitenden Fällen”) gehört, bestimmt:
„Die Mitgliedstaaten tragen dafür Sorge, dass in den Fällen, in denen eine vorsätzliche Gewalttat in einem anderen als dem Mitgliedstaat begangen wurde, in dem die Entschädigung beantragende Person ihren gewöhnlichen Aufenthalt hat, diese be...