Entscheidungsstichwort (Thema)
Vorlage zur Vorabentscheidung. Nationale Regelungen für die Entschädigung der Opfer vorsätzlicher Gewalttaten, die eine gerechte und angemessene Entschädigung gewährleisten. Geltungsbereich. Opfer, das in dem Mitgliedstaat wohnt, in dem die vorsätzliche Gewalttat begangen wurde. Pflicht, dieses Opfer unter die nationale Entschädigungsregelung fallen zu lassen. Begriff ‚gerechte und angemessene Entschädigung’. Haftung der Mitgliedstaaten bei Verstößen gegen das Unionsrecht
Normenkette
Richtlinie 2004/80/EG Art. 12 Abs. 2
Beteiligte
Presidenza del Consiglio dei Ministri |
Presidenza del Consiglio dei Ministri |
Tenor
1. Das Unionsrecht ist dahin auszulegen, dass die Regelung über die außervertragliche Haftung eines Mitgliedstaats für den Schaden, der durch den Verstoß gegen dieses Recht entstanden ist, mit der Begründung, dass dieser Mitgliedstaat Art. 12 Abs. 2 der Richtlinie 2004/80/EG des Rates vom 29. April 2004 zur Entschädigung der Opfer von Straftaten nicht rechtzeitig umgesetzt hat, auf Opfer mit Wohnsitz in diesem Mitgliedstaat, in dem auch die vorsätzliche Gewalttat begangen wurde, anwendbar ist.
2. Art. 12 Abs. 2 der Richtlinie 2004/80 ist dahin auszulegen, dass eine pauschale Entschädigung, die Opfern sexueller Gewalt gemäß einer nationalen Regelung für die Entschädigung von Opfern vorsätzlicher Gewalttaten gewährt wird, nicht als „gerecht und angemessen” im Sinne dieser Bestimmung eingestuft werden kann, wenn sie festgelegt wird, ohne die Schwere der Folgen der begangenen Tat für die Opfer zu berücksichtigen, und daher keinen adäquaten Beitrag zur Wiedergutmachung des erlittenen materiellen und immateriellen Schadens darstellt.
Tatbestand
In der Rechtssache
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht von der Corte suprema di cassazione (Kassationsgerichtshof, Italien) mit Entscheidung vom 29. Januar 2019, beim Gerichtshof eingegangen am 19. Februar 2019, in dem Verfahren
Presidenza del Consiglio dei Ministri
gegen
BV,
Beteiligte:
Procura della Repubblica di Torino,
erlässt
DER GERICHTSHOF (Große Kammer)
unter Mitwirkung des Präsidenten K. Lenaerts, der Vizepräsidentin R. Silva de Lapuerta, der Kammerpräsidenten J.-C. Bonichot, M. Vilaras (Berichterstatter), E. Regan, M. Safjan und P. G. Xuereb, der Kammerpräsidentin L. S. Rossi und des Kammerpräsidenten I. Jarukaitis sowie der Richter L. Bay Larsen und T. von Danwitz, der Richterin C. Toader und der Richter D. Šváby, C. Lycourgos und N. Piçarra,
Generalanwalt: M. Bobek,
Kanzler: R. Schiano, Verwaltungsrat,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 2. März 2020,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
- von BV, vertreten durch V. Zeno-Zencovich, U. Oliva, F. Bracciani und M. Bona, avvocati,
- der italienischen Regierung, vertreten durch G. Palmieri als Bevollmächtigte im Beistand von G. Palatiello, avvocato dello Stato,
- der Europäischen Kommission, zunächst vertreten durch C. Ladenburger, E. Montaguti und M. Heller, dann durch C. Ladenburger, G. Gattinara, E. Montaguti und M. Heller als Bevollmächtigte,
nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 14. Mai 2020
folgendes
Urteil
Entscheidungsgründe
Rz. 1
Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung der Richtlinie 2004/80/EG des Rates vom 29. April 2004 zur Entschädigung der Opfer von Straftaten (ABl. 2004, L 261, S. 15).
Rz. 2
Dieses Ersuchen ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen der Presidenza del Consiglio dei Ministri (Präsidium des Ministerrats, Italien) und BV über die außervertragliche Haftung, die BV gegen die Italienische Republik wegen eines Schadens geltend macht, der BV wegen der unterbliebenen Umsetzung der Richtlinie 2004/80 in italienisches Recht entstanden sein soll.
Rechtlicher Rahmen
Unionsrecht
Rz. 3
In den Erwägungsgründen 1 bis 3, 6 bis 8 und 10 der Richtlinie 2004/80 heißt es:
„(1) Die Beseitigung der Hindernisse für den freien Personen- und Dienstleistungsverkehr zwischen den Mitgliedstaaten gehört zu den Zielen der [Union].
(2) Nach dem Urteil [vom 2. Februar 1989, Cowan (C-186/87, EU:C:1989:47),] ist es, wenn das [Unions]recht einer natürlichen Person die Freiheit garantiert, sich in einen anderen Mitgliedstaat zu begeben, zwingende Folge dieser Freizügigkeit, dass Leib und Leben dieser Person in dem betreffenden Mitgliedstaat in gleicher Weise geschützt sind, wie dies bei den eigenen Staatsangehörigen und den in diesem Staat wohnhaften Personen der Fall ist. Zur Verwirklichung dieses Ziels sollten unter anderem Maßnahmen ergriffen werden, um die Entschädigung der Opfer von Straftaten zu erleichtern.
(3) Der Europäische Rat hat auf seiner Tagung am 15. und 16. Oktober 1999 in Tampere [(Finnland)] dazu aufgerufen, Mindeststandards für den Schutz der Opfer von Verbrechen – insbesondere hinsichtlich deren Zugang zum Recht und ihrer Schadensersatzansprüche, einschließlich der Prozesskosten – auszuarbeiten.
…
(6) Opfer von Straftaten in der Europäischen Union sollten unabhängig dav...