Entscheidungsstichwort (Thema)
Vorlage zur Vorabentscheidung. Justizielle Zusammenarbeit in Zivilsachen. Zustellung gerichtlicher und außergerichtlicher Schriftstücke. Begriff ‚außergerichtliches Schriftstück’. Privates Schriftstück. Grenzüberschreitender Bezug. Funktionieren des Binnenmarkts
Beteiligte
Tecom Mican und Arias Domínguez |
Tenor
1. Art. 16 der Verordnung (EG) Nr. 1393/2007 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. November 2007 über die Zustellung gerichtlicher und außergerichtlicher Schriftstücke in Zivil- oder Handelssachen in den Mitgliedstaaten („Zustellung von Schriftstücken”) und zur Aufhebung der Verordnung (EG) Nr. 1348/2000 des Rates ist dahin auszulegen, dass der Begriff „außergerichtliches Schriftstück” in diesem Artikel nicht nur von einer Behörde oder einer Amtsperson erstellte oder beglaubigte Schriftstücke erfasst, sondern auch private Schriftstücke, deren förmliche Übermittlung an ihren im Ausland ansässigen Empfänger zur Geltendmachung, zum Beweis oder zur Wahrung eines Rechts oder Anspruchs in Zivil- oder Handelssachen erforderlich ist.
2. Die Verordnung Nr. 1393/2007 ist dahin auszulegen, dass die Zustellung eines außergerichtlichen Schriftstücks nach Maßgabe der in dieser Verordnung festgelegten Modalitäten auch dann zulässig ist, wenn der Antragsteller bereits eine erste Zustellung auf einem in der Verordnung nicht vorgesehenen Übermittlungsweg oder auf eine andere der in der Verordnung vorgesehenen Übermittlungsarten bewirkt hat.
3. Art. 16 der Verordnung Nr. 1393/2007 ist dahin auszulegen, dass, wenn alle Voraussetzungen für seine Anwendung erfüllt sind, nicht im Einzelfall zu überprüfen ist, dass die Zustellung eines außergerichtlichen Schriftstücks einen grenzüberschreitenden Bezug aufweist und für das reibungslose Funktionieren des Binnenmarkts erforderlich ist.
Tatbestand
In der Rechtssache
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Juzgado de Primera Instancia n° 7 de Las Palmas de Gran Canaria (Gericht erster Instanz Nr. 7, Las Palmas de Gran Canaria, Spanien) mit Entscheidung vom 28. April 2014, beim Gerichtshof eingegangen am 7. Mai 2014, in dem Verfahren
Tecom Mican SL,
José Arias Domínguez
erlässt
DER GERICHTSHOF (Erste Kammer)
unter Mitwirkung des Vizepräsidenten A. Tizzano (Berichterstatter) in Wahrnehmung der Aufgaben des Präsidenten der Ersten Kammer, der Richter F. Biltgen, A. Borg Barthet und E. Levits sowie der Richterin M. Berger,
Generalanwalt: Y. Bot,
Kanzlerin: M. Ferreira, Hauptverwaltungsrätin,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 25. März 2015,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
- der Tecom Mican SL, vertreten durch T. Rosales Hernández, abogado,
- der spanischen Regierung, vertreten durch A. Gavela Llopis als Bevollmächtigte,
- der deutschen Regierung, vertreten durch T. Henze und J. Kemper als Bevollmächtigte,
- der ungarischen Regierung, vertreten durch M. Fehér und G. Koós als Bevollmächtigte,
- der portugiesischen Regierung, vertreten durch L. Inez Fernandes, A. Fonseca Santos und R. Chambel Margarido als Bevollmächtigte,
- der Europäischen Kommission, vertreten durch F. Castillo de la Torre und M. Wilderspin als Bevollmächtigte,
nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 4. Juni 2015
folgendes
Urteil
Entscheidungsgründe
Rz. 1
Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 16 der Verordnung (EG) Nr. 1393/2007 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. November 2007 über die Zustellung gerichtlicher und außergerichtlicher Schriftstücke in Zivil- oder Handelssachen in den Mitgliedstaaten („Zustellung von Schriftstücken”) und zur Aufhebung der Verordnung (EG) Nr. 1348/2000 des Rates (ABl. L 324, S. 79).
Rz. 2
Dieses Ersuchen ergeht im Rahmen eines von der Tecom Mican SL (im Folgenden: Tecom), einer Handelsvertreterin, beim Juzgado de Primera Instancia n° 7 de Las Palmas de Gran Canaria (Gericht erster Instanz Nr. 7, Las Palmas de Gran Canaria) anhängig gemachten Verfahrens gegen eine Verfügung des Urkundsbeamten dieses Gerichts, mit der dieser sich weigerte, außerhalb eines gerichtlichen Verfahrens der MAN Diesel & Turbo SE (im Folgenden: MAN Diesel) ein Mahnschreiben zuzustellen.
Rechtlicher Rahmen
Internationales Recht
Rz. 3
Art. 17 des Haager Übereinkommens vom 15. November 1965 über die Zustellung gerichtlicher und außergerichtlicher Schriftstücke im Ausland in Zivil- oder Handelssachen (im Folgenden: Haager Übereinkommen von 1965) lautet:
„Außergerichtliche Schriftstücke, die von Behörden und Justizbeamten eines Vertragsstaats stammen, können zum Zweck der Zustellung in einem anderen Vertragsstaat nach den in diesem Übereinkommen vorgesehenen Verfahren und Bedingungen übermittelt werden.”
Rz. 4
Im Praktischen Handbuch zum Haager Übereinkommen (Ständiges Büro der Haager Konferenz für Internationales Privatrecht, Manuel pratique sur le fonctionnement de la Convention Notification de La Haye, 3. Auflage, Bruylant...