Entscheidungsstichwort (Thema)
Vorlage zur Vorabentscheidung. Freizügigkeit. Unionsbürgerschaft. Niederlassungsfreiheit. Gleichbehandlung. Regelung des Vereinigten Königreichs Großbritannien und Nordirland, wonach der grundsätzlich vollständige und automatische Ausschluss von Rentenansprüchen aus einem Altersversorgungssystem von der Insolvenzmasse voraussetzt, dass dieses Altersversorgungssystem steuerlich anerkannt ist. Geltung dieser Voraussetzung in einem Insolvenzverfahren über das Vermögen eines Unionsbürgers, der von seiner Freizügigkeit Gebrauch gemacht hat, um im Vereinigten Königreich dauerhaft als Selbständiger tätig zu sein. Rentenansprüche dieses Unionsbürgers aus einem Altersversorgungssystem, das in seinem Herkunftsmitgliedstaat errichtet und steuerlich anerkannt wurde. Kein Ausschluss dieser Rentenansprüche von der Insolvenzmasse. Anwendung einer Regelung über den Ausschluss von der Insolvenzmasse auf diese Rentenansprüche, die für den Insolvenzschuldner weitaus ungünstiger ist
Normenkette
Verordnung (EG) Nr. 1346/2000; Verordnung (EU) Nr. 492/2011; RL 2004/38/EG Art. 24; AEUV Art. 21, 49
Beteiligte
Tenor
Art. 49 AEUV ist dahin auszulegen, dass er einer Bestimmung des Rechts eines Mitgliedstaats entgegensteht, wonach der grundsätzlich vollständige und automatische Ausschluss von Rentenansprüchen aus einem Altersversorgungssystem von der Insolvenzmasse voraussetzt, dass das betreffende System zum Zeitpunkt der Insolvenz in diesem Staat steuerlich anerkannt war, wenn diese Voraussetzung in einer Situation gilt, in der einem Unionsbürger, der vor seiner Insolvenz von seinem Recht auf Freizügigkeit Gebrauch gemacht hat, indem er sich dauerhaft in diesem Staat niedergelassen hat, um dort eine selbständige wirtschaftliche Tätigkeit auszuüben, Rentenansprüche aus einem Altersversorgungssystem zustehen, das in seinem Herkunftsmitgliedstaat errichtet und steuerlich anerkannt wurde, es sei denn, dass die in dieser nationalen Bestimmung enthaltene Beschränkung der Niederlassungsfreiheit gerechtfertigt ist, weil sie auf einem zwingenden Grund des Allgemeininteresses beruht, das mit ihr verfolgte Ziel zu erreichen, und nicht über das hinausgeht, was zur Erreichung dieses Ziels erforderlich ist.
Tatbestand
In der Rechtssache
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom High Court of Justice (England & Wales), Chancery Division (business and property courts, insolvency and companies list) (Hoher Gerichtshof [England und Wales], Abteilung Chancery [Handels-, vermögens-, insolvenz- und gesellschaftsrechtliche Streitigkeiten], Vereinigtes Königreich) mit Entscheidung vom 30. März 2020, beim Gerichtshof eingegangen am 22. April 2020, in dem Verfahren
BJ, als Insolvenzverwalter über das Vermögen von Herrn M,
OV, als Insolvenzverwalter über das Vermögen von Herrn M,
gegen
Frau M,
MH,
ILA,
Herrn M
erlässt
DER GERICHTSHOF (Dritte Kammer)
unter Mitwirkung der Präsidentin der Zweiten Kammer A. Prechal (Berichterstatterin) in Wahrnehmung der Aufgaben der Präsidentin der Dritten Kammer, der Richter J. Passer und F. Biltgen, der Richterin L. S. Rossi und des Richters N. Wahl,
Generalanwalt: M. Szpunar,
Kanzler: A. Calot Escobar,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
- von BJ und OV als Insolvenzverwalter über das Vermögen von Herrn M, vertreten durch D. J. Rhee, QC, C. Harrison, Barrister, und I. Gill, Solicitor,
- von Frau M, MH, ILA und Herrn M, vertreten durch G. Peretz, QC, J. Briggs, Barrister, und S. Gilchrist, Solicitor,
- der Europäischen Kommission, vertreten durch L. Armati, L. Malferrari und M. Wilderspin als Bevollmächtigte,
aufgrund des nach Anhörung des Generalanwalts ergangenen Beschlusses, ohne Schlussanträge über die Rechtssache zu entscheiden,
folgendes
Urteil
Entscheidungsgründe
Rz. 1
Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung der Art. 21 und 49 AEUV sowie der Richtlinie 2004/38/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 über das Recht der Unionsbürger und ihrer Familienangehörigen, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten, zur Änderung der Verordnung (EWG) Nr. 1612/68 und zur Aufhebung der Richtlinien 64/221/EWG, 68/360/EWG, 72/194/EWG, 73/148/EWG, 75/34/EWG, 75/35/EWG, 90/364/EWG, 90/365/EWG und 93/96/EWG (ABl. 2004, L 158, S. 77, und Berichtigung ABl. 2004, L 229, S. 35).
Rz. 2
Dieses Ersuchen ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen BJ und OV als Insolvenzverwalter über das Vermögen von Herrn M (im Folgenden: Insolvenzverwalter) auf der einen Seite und Frau M, MH, ILA und Herrn M (im Folgenden zusammen: Herr M u. a.) auf der anderen Seite über die Forderung der Insolvenzverwalter, Rentenansprüche von Herrn M, einem irischen Staatsangehörigen, aus einem in Irland errichteten und nach irischem Steuerrecht anerkannten Altersversorgungssystem in die Insolvenzmasse aufzunehmen.
Rechtlicher Rahmen
Unionsrecht
Verordnung (EG) Nr. 1346/2000
Rz. 3
Art. 3 („Int...