Entscheidungsstichwort (Thema)
Vorsteuerabzug, Rechtsmissbrauch, Gestaltungsmissbrauch zur Erlangung des Vorsteuerabzugs, Nationales Vorverfahren bei Verdacht auf Rechtsmissbrauch, Portugal
Leitsatz (amtlich)
Die Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom 28. November 2006 über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem ist dahin auszulegen, dass sie der vorherigen und zwingenden Anwendung eines nationalen Verwaltungsverfahrens wie dem in Art. 63 des Código de Procedimento e de Processo Tributário vorgesehenen nicht entgegensteht, wenn die Finanzverwaltung den Verdacht hegt, dass eine missbräuchliche Praxis vorliegt.
Normenkette
EGRL 112/2006
Beteiligte
Surgicare - Unidades de Saúde SA |
Verfahrensgang
Supremo Tribunal Administrativo (Portugal) (Urteil vom 04.12.2013; ABl. EU 2014, Nr. C 78/3) |
Tatbestand
„Vorlage zur Vorabentscheidung ‐ Mehrwertsteuer ‐ Richtlinie 2006/112/EG ‐ Vorsteuerabzug ‐ Umsätze, die eine missbräuchliche Praxis darstellen ‐ Nationales Steuerrecht ‐ Besonderes nationales Verfahren bei Verdacht auf missbräuchliche Praktiken im Steuerbereich ‐ Grundsätze der Effektivität und der Äquivalenz“
In der Rechtssache C-662/13
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Supremo Tribunal Administrativo (Portugal) mit Entscheidung vom 4. Dezember 2013, beim Gerichtshof eingegangen am 13. Dezember 2013, in dem Verfahren
Surgicare ‐ Unidades de Saúde SA
gegen
Fazenda Pública
erlässt
DER GERICHTSHOF (Neunte Kammer)
unter Mitwirkung der Kammerpräsidentin K. Jürimäe (Berichterstatterin) sowie der Richter J. Malenovský und M. Safjan,
Generalanwalt: P. Mengozzi,
Kanzler: A. Calot Escobar,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
‐ der Surgicare ‐ Unidades de Saúde SA, vertreten durch R. Barreira, advogado,
‐ der portugiesischen Regierung, vertreten durch L. Inez Fernandes, R. Laires und M. Rebelo als Bevollmächtigte,
‐ der Europäischen Kommission, vertreten durch P. Guerra e Andrade und L. Lozano Palacios als Bevollmächtigte,
aufgrund des nach Anhörung des Generalanwalts ergangenen Beschlusses, ohne Schlussanträge über die Rechtssache zu entscheiden,
folgendes
Urteil
Rz. 1
Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung der Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom 28. November 2006 über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem (ABl. L 347, S. 1).
Rz. 2
Es ergeht in einem Rechtsstreit zwischen der Surgicare ‐ Unidades de Saúde SA (im Folgenden: Surgicare) und der Fazenda Pública (Staatskasse) wegen deren Weigerung, die von Surgicare als Vorsteuer entrichtete Mehrwertsteuer zu erstatten, weil sie von ihrem Abzugsrecht in missbräuchlicher Weise Gebrauch gemacht habe.
Rechtlicher Rahmen
Unionsrecht
Rz. 3
Art. 273 Abs. 1 der Richtlinie 2006/112 bestimmt:
„Die Mitgliedstaaten können vorbehaltlich der Gleichbehandlung der von Steuerpflichtigen bewirkten Inlandsumsätze und innergemeinschaftlichen Umsätze weitere Pflichten vorsehen, die sie für erforderlich erachten, um eine genaue Erhebung der Steuer sicherzustellen und um Steuerhinterziehung zu vermeiden, sofern diese Pflichten im Handelsverkehr zwischen den Mitgliedstaaten nicht zu Formalitäten beim Grenzübertritt führen.“
Rz. 4
Art. 342 der Richtlinie lautet:
„Die Mitgliedstaaten können hinsichtlich des Rechts auf Vorsteuerabzug Maßnahmen treffen, um zu verhindern, dass steuerpflichtigen Wiederverkäufern, die unter eine der Regelungen des Abschnitts 2 fallen, ungerechtfertigte Vor- oder Nachteile entstehen.“
Portugiesisches Recht
Rz. 5
In der Lei Geral Tributária (Allgemeines Steuergesetz), die durch das Decreto-lei Nr. 398/98 vom 17. Dezember 1998 erlassen wurde, sind die grundlegenden Prinzipien des Steuersystems, die Garantien der Steuerpflichtigen und die Befugnisse der Finanzverwaltung festgelegt. Art. 38 („Unwirksamkeit von rechtlichen Handlungen und Rechtsgeschäften“) dieses Gesetzes bestimmt:
„(1) Die Unwirksamkeit eines Rechtsgeschäfts steht einer Besteuerung in dem Zeitpunkt, in dem sie rechtlich vorgesehen ist, nicht entgegen, sofern es bereits die von den Beteiligten erwarteten wirtschaftlichen Auswirkungen entfaltet hat.
(2) Rechtliche Handlungen oder Rechtsgeschäfte, die in erster Linie oder hauptsächlich entweder darauf gerichtet sind, mit Hilfe künstlicher oder betrügerischer Maßnahmen oder unter Missbrauch des Rechtswegs Steuern zu verringern oder zu vermeiden oder einen Aufschub von Steuern zu erwirken, die bei demselben wirtschaftlichen Zweck dienenden Tatbeständen, rechtlichen Handlungen oder Rechtsgeschäften geschuldet würden, oder die auf die Erlangung von Steuervorteilen abzielen, die ohne den Einsatz dieser Mittel überhaupt nicht oder nur teilweise gewährt würden, sind steuerrechtlich unwirksam, so dass die Besteuerung nach den Regeln erfolgt, die anzuwenden sind, wenn keine der genannten rechtlichen Handlungen und kein derartiges Rechtsgeschäft vorliegt und die Betroffenen die fraglichen Steuervorteile nicht erhalten.“
Rz. 6
Der Código de Procedimento e de Processo Tributário (Steuerverfahre...