Entscheidungsstichwort (Thema)
Vorlage zur Vorabentscheidung. Unionsbürgerschaft. Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats und eines Drittstaats. Verlust der Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats und der Unionsbürgerschaft kraft Gesetzes. Folgen. Verhältnismäßigkeit
Normenkette
AEUV Art. 20; Charta der Grundrechte der Europäischen Union Art. 7, 24
Beteiligte
Minister van Buitenlandse Zaken |
Tenor
Art. 20 AEUV ist im Licht der Art. 7 und 24 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union dahin auszulegen, dass er einer Regelung eines Mitgliedstaats wie der in den Ausgangsverfahren in Rede stehenden, die unter bestimmten Bedingungen den Verlust der Staatsangehörigkeit dieses Mitgliedstaats kraft Gesetzes vorsieht, der bei Personen, die nicht auch die Staatsangehörigkeit eines anderen Mitgliedstaats besitzen, zum Verlust ihres Status als Bürger der Europäischen Union und der damit verbundenen Rechte führt, nicht entgegensteht, sofern die zuständigen nationalen Behörden einschließlich gegebenenfalls der nationalen Gerichte in der Lage sind, bei der Beantragung eines Reisedokuments oder eines anderen Dokuments zur Bescheinigung der Staatsangehörigkeit durch eine betroffene Person inzident die Folgen dieses Verlusts der Staatsangehörigkeit zu prüfen und gegebenenfalls die Staatsangehörigkeit der betroffenen Personen rückwirkend wiederherzustellen. Im Rahmen dieser Prüfung müssen diese Behörden und Gerichte feststellen, ob der Verlust der Staatsangehörigkeit des betreffenden Mitgliedstaats, der den des Unionsbürgerstatus mit sich bringt, im Hinblick auf seine Folgen für die Situation der betroffenen Personen und gegebenenfalls für die ihrer Familienangehörigen aus unionsrechtlicher Sicht mit dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit vereinbar ist.
Tatbestand
In der Rechtssache
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Raad van State (Staatsrat, Niederlande) mit Entscheidung vom 19. April 2017, beim Gerichtshof eingegangen am 27. April 2017, in dem Verfahren
M. G. Tjebbes,
G. J. M. Koopman,
E. Saleh Abady,
L. Duboux
gegen
Minister van Buitenlandse Zaken
erlässt
DER GERICHTSHOF (Große Kammer)
unter Mitwirkung des Präsidenten K. Lenaerts, der Kammerpräsidentin A. Prechal, des Kammerpräsidenten M. Vilaras, der Kammerpräsidentin K. Jürimäe und des Kammerpräsidenten C. Lycourgos (Berichterstatter) sowie der Richter A. Rosas, E. Juhász, J. Malenovský, E. Levits, L. Bay Larsen und D. Šváby,
Generalanwalt: P. Mengozzi,
Kanzler: M.-A. Gaudissart, Hilfskanzler,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 24. April 2018,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
- von Frau Tjebbes, vertreten durch A. van Rosmalen,
- von Frau Koopman und Frau Duboux, vertreten durch E. Derksen, advocaat,
- von Frau Saleh Abady, vertreten durch N. van Bremen, advocaat,
- der niederländischen Regierung, vertreten durch M. K. Bulterman, H. S. Gijzen und J. Langer als Bevollmächtigte,
- von Irland, vertreten durch M. Browne, L. Williams und A. Joyce als Bevollmächtigte,
- der griechischen Regierung, vertreten durch T. Papadopoulou als Bevollmächtigte,
- der Europäischen Kommission, vertreten durch H. Kranenborg und E. Montaguti als Bevollmächtigte,
nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 12. Juli 2018
folgendes
Urteil
Entscheidungsgründe
Rz. 1
Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung der Art. 20 und 21 AEUV sowie des Art. 7 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta).
Rz. 2
Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen den Damen M. G. Tjebbes, G. J. M. Koopman, E. Saleh Abady sowie L. Duboux und dem Minister van Buitenlandse Zaken (Minister für auswärtige Angelegenheiten, Niederlande) (im Folgenden: Minister) wegen dessen Weigerung, ihren jeweiligen Antrag auf Erteilung eines nationalen Reisepasses zu prüfen.
Rechtlicher Rahmen
Völkerrecht
Übereinkommen zur Verminderung der Staatenlosigkeit
Rz. 3
Das am 30. August 1961 in New York angenommene und am 13. Dezember 1975 in Kraft getretene Übereinkommen der Vereinten Nationen zur Verminderung der Staatenlosigkeit (im Folgenden: Übereinkommen zur Verminderung der Staatenlosigkeit) ist im Königreich der Niederlande seit dem 11. August 1985 anwendbar. Art. 6 dieses Übereinkommens bestimmt:
„Erstreckt sich nach dem Recht eines Vertragsstaats der Verlust oder Entzug der Staatsangehörigkeit einer Person auf den Ehegatten oder die Kinder, so ist für diese der Verlust vom Besitz oder Erwerb einer anderen Staatsangehörigkeit abhängig.”
Rz. 4
Art. 7 Abs. 3 bis 6 des Übereinkommens sieht vor:
„(3) Vorbehaltlich der Absätze 4 und 5 verliert ein Staatsangehöriger eines Vertragsstaats weder wegen Verlassens des Landes, Auslandsaufenthaltes oder Verletzung einer Meldepflicht noch aus einem ähnlichen Grund seine Staatsangehörigkeit, wenn er dadurch staatenlos wird.
(4) Eine eingebürgerte Person kann auf Grund eines Auslandsaufenthaltes nach einer im Recht d...