Entscheidungsstichwort (Thema)
Vorlage zur Vorabentscheidung. Soziale Sicherheit der Wanderarbeitnehmer. Erhöhung des Satzes der Altersrente. Berücksichtigung einer Beihilfe, die für die Erziehung eines behinderten Kindes in einem anderen Mitgliedstaat gezahlt wird. Grundsatz der Gleichstellung von Sachverhalten
Normenkette
EGV 883/2004 Art. 5 Buchst. b
Beteiligte
Caisse d'assurance retraite und de la santé au travail d'Alsace-Moselle |
Caisse d'assurance retraite et de la santé au travail d'Alsace-Moselle |
Ministre chargé de la Sécurité sociale |
Tenor
1. Art. 3 der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit in der durch die Verordnung (EG) Nr. 988/2009 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. September 2009 geänderten Fassung ist dahin auszulegen, dass die in § 35a des Achten Buches Sozialgesetzbuch vorgesehene Eingliederungsbeihilfe für seelisch behinderte Kinder und Jugendliche keine Leistung im Sinne dieses Art. 3 darstellt und daher nicht in den sachlichen Geltungsbereich dieser Verordnung fällt.
2. Art. 5 der Verordnung Nr. 883/2004 in der durch die Verordnung Nr. 988/2009 geänderten Fassung ist dahin auszulegen, dass
- die in Art. L. 541-1 des französischen Sozialgesetzbuchs vorgesehene Beihilfe für die Erziehung behinderter Kinder und die in § 35a des Achten Buches des deutschen Sozialgesetzbuchs vorgesehene Eingliederungsbeihilfe für seelisch behinderte Kinder und Jugendliche nicht als gleichartige Leistungen im Sinne von Art. 5 Buchst. a dieser Verordnung angesehen werden können;
- der in Art. 5 Buchst. b verankerte Grundsatz der Gleichstellung von Sachverhalten unter Umständen wie den im Ausgangsverfahren in Rede stehenden anwendbar ist. Es ist daher Sache der zuständigen französischen Behörden, festzustellen, ob im vorliegenden Fall der Eintritt des im Sinne dieser Vorschrift erforderlichen Sachverhalts nachgewiesen ist. Hierfür müssen die Behörden in Deutschland eingetretene vergleichbare Sachverhalte berücksichtigen, als ob diese in ihrem eigenen Hoheitsgebiet eingetreten wären.
Tatbestand
In der Rechtssache
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht von der Cour de cassation (Kassationsgerichtshof, Frankreich) mit Entscheidung vom 29. November 2018, beim Gerichtshof eingegangen am 7. Dezember 2018, in dem Verfahren
Caisse d'assurance retraite et de la santé au travail d'Alsace-Moselle
gegen
SJ,
Ministre chargé de la Sécurité sociale
erlässt
DER GERICHTSHOF (Achte Kammer)
unter Mitwirkung der Kammerpräsidentin L. S. Rossi (Berichterstatterin) sowie der Richter J. Malenovský und F. Biltgen,
Generalanwalt: M. Campos Sánchez-Bordona,
Kanzler: C. Strömholm, Verwaltungsrätin,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 24. Oktober 2019,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
- der Caisse d'assurance retraite et de la santé au travail d'Alsace-Moselle, vertreten durch J.-J. Gatineau, avocat,
- der französischen Regierung, vertreten durch A.-L. Desjonquères, A. Daly sowie D. Colas, A. Ferrand und R. Coesme als Bevollmächtigte,
- der tschechischen Regierung, vertreten durch M. Smolek, J. Pavliš und J. Vláčil als Bevollmächtigte,
- der deutschen Regierung, vertreten durch D. Klebs als Bevollmächtigten,
- der Europäischen Kommission, vertreten durch C. Valero und B.-R. Killmann als Bevollmächtigte,
aufgrund des nach Anhörung des Generalanwalts ergangenen Beschlusses, ohne Schlussanträge über die Rechtssache zu entscheiden,
folgendes
Urteil
Entscheidungsgründe
Rz. 1
Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit (ABl. 2004, L 166, S. 1, Berichtigung ABl. 2004, L 200, S. 1) in der durch die Verordnung (EG) Nr. 988/2009 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. September 2009 (ABl. 2009, L 284, S. 43) geänderten Fassung (im Folgenden: Verordnung Nr. 883/2004).
Rz. 2
Dieses Ersuchen ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen der Caisse d'assurance retraite et de la santé au travail d'Alsace-Moselle (Versicherungskasse für Renten und Gesundheitsschutz am Arbeitsplatz, Alsace-Moselle, Frankreich, im Folgenden: Carsat) auf der einen und SJ sowie dem Ministre chargé de la Sécurité sociale (Minister für soziale Sicherheit) auf der anderen Seite betreffend die Frage, ob bei der Berechnung der Altersrente von SJ die Erhöhung der Erwerbstätigkeitszeit, die SJ aufgrund der Erziehung ihres behinderten Kindes beanspruchen könnte, zu berücksichtigen ist.
Rechtlicher Rahmen
Unionsrecht
Rz. 3
Die Erwägungsgründe 9 und 12 der Verordnung Nr. 883/2004 lauten:
„(9) Der Gerichtshof hat mehrfach zur Möglichkeit der Gleichstellung von Leistungen, Einkünften und Sachverhalten Stellung genommen; dieser Grundsatz sollte explizit aufgenommen und ausgeformt werden, wobei Inhalt und Geist der Gerichtsentscheidungen zu beachten sind.
…
(12) Im...