Entscheidungsstichwort (Thema)
Vorlage zur Vorabentscheidung. Soziale Sicherheit. Abkommen zwischen der Europäischen Gemeinschaft und ihren Mitgliedstaaten einerseits und der Schweizerischen Eidgenossenschaft andererseits über die Freizügigkeit. Sachlicher Geltungsbereich. Abgaben auf Einkünfte aus dem Vermögen einer in Frankreich wohnenden Person, die in der schweizerischen Sozialversicherung versichert ist. Abgaben, die für die Finanzierung zweier von der französischen nationalen Solidaritätskasse für Eigenständigkeit verwaltete Leistungen verwendet werden. Unmittelbare und hinreichend relevante Verbindung zu bestimmten Zweigen der sozialen Sicherheit. Begriff der Leistung der sozialen Sicherheit. Individuelle Prüfung der persönlichen Bedürftigkeit des Antragstellers. Berücksichtigung der Mittel des Antragstellers bei der Berechnung der Höhe der Leistungen
Normenkette
EGV Nr. 883/2004 Art. 3
Beteiligte
Ministre de l'Action et des Comptes publics |
Herrn und Frau Raymond Dreyer |
Tenor
Art. 3 der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit ist dahin auszulegen, dass Leistungen wie die individuelle Beihilfe zur Eigenständigkeit und die Leistung zum Ausgleich einer Behinderung zum Zweck ihrer Einstufung als „Leistungen der sozialen Sicherheit” im Sinne dieser Bestimmung als ohne jede individuelle Prüfung der persönlichen Bedürftigkeit des Empfängers gewährt anzusehen sind, da dessen Mittel allein zum Zweck der Berechnung des tatsächlichen Betrags dieser Leistungen auf der Grundlage objektiver und gesetzlich festgelegter Kriterien berücksichtigt werden.
Tatbestand
In der Rechtssache
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht von der Cour administrative d'appel de Nancy (Verwaltungsberufungsgericht Nancy, Frankreich) mit Entscheidung vom 31. Mai 2018, beim Gerichtshof eingegangen am 7. Juni 2018, in dem Verfahren
Ministre de l'Action et des Comptes publics
gegen
Herrn und Frau Raymond Dreyer
erlässt
DER GERICHTSHOF (Siebte Kammer)
unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten T. von Danwitz sowie der Richter E. Levits und C. Vajda (Berichterstatter),
Generalanwalt: M. Bobek,
Kanzler: A. Calot Escobar,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
- von Herrn und Frau Dreyer, vertreten durch J. Schaeffer, avocat,
- der französischen Regierung, vertreten durch D. Colas und R. Coesme als Bevollmächtigte,
- der Europäischen Kommission, vertreten durch D. Martin und M. Van Hoof als Bevollmächtigte,
aufgrund des nach Anhörung des Generalanwalts ergangenen Beschlusses, ohne Schlussanträge über die Rechtssache zu entscheiden,
folgendes
Urteil
Entscheidungsgründe
Rz. 1
Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 3 der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit (ABl. 2004, L 166, S. 1, Berichtigung ABl. 2004, L 200, S. 1).
Rz. 2
Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen dem Ministre de l'Action et des Comptes publics (Minister für staatliches Handeln und öffentliche Haushalte, Frankreich) sowie Herrn und Frau Raymond Dreyer, im schweizerischen Sozialversicherungssystem versicherte französische Steueransässige (im Folgenden: Eheleute Dreyer), wegen der Zahlung von Beiträgen und Abgaben, die ihnen auf ihre Einkünfte aus Kapitalvermögen im Jahr 2015 auferlegt wurden.
Rechtlicher Rahmen
Unionsrecht
Abkommen über die Freizügigkeit
Rz. 3
Am 21. Juni 1999 unterzeichneten die Europäische Gemeinschaft und ihre Mitgliedstaaten einerseits und die Schweizerische Eidgenossenschaft andererseits sieben Abkommen, darunter das Abkommen über die Freizügigkeit (ABl. 2002, L 114, S. 6, im Folgenden: Abkommen über die Freizügigkeit). Diese sieben Abkommen wurden mit dem Beschluss 2002/309/EG, Euratom des Rates und – bezüglich des Abkommens über die wissenschaftliche und technische Zusammenarbeit – der Kommission vom 4. April 2002 über den Abschluss von sieben Abkommen mit der Schweizerischen Eidgenossenschaft (ABl. 2002, L 114, S. 1) im Namen der Gemeinschaft gebilligt und traten am 1. Juni 2002 in Kraft.
Rz. 4
Nach dem Wortlaut der Präambel des Freizügigkeitsabkommens sind die Vertragsparteien „entschlossen, [die] Freizügigkeit zwischen ihnen auf der Grundlage der in der Europäischen Gemeinschaft geltenden Bestimmungen zu verwirklichen”.
Rz. 5
Art. 8 „Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit”) dieses Abkommens lautet:
„Die Vertragsparteien regeln die Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit gemäß Anhang II, um insbesondere Folgendes zu gewährleisten:
- Gleichbehandlung;
- Bestimmung der anzuwendenden Rechtsvorschriften;
- die Zusammenrechnung aller nach den verschiedenen nationalen Rechtsvorschriften berücksichtigten Versicherungszeiten für den Erwerb und die Aufrechterhaltung des Leistungsanspruchs sowie für die Berechnung der Leistungen;
- Zahlung der Leistungen an Personen, die ihren...