Entscheidungsstichwort (Thema)
Vorlage zur Vorabentscheidung. Justizielle Zusammenarbeit in Zivilsachen. Zuständigkeit, anwendbares Recht sowie Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Unterhaltssachen. Bestimmung des anwendbaren Rechts. Gewöhnlicher Aufenthalt der berechtigten Person. Zeitpunkt für die Bestimmung des gewöhnlichen Aufenthalts. Widerrechtliches Zurückhalten eines Kindes
Normenkette
Haager Protokoll über das auf Unterhaltspflichten anzuwendende Recht Art. 3
Beteiligte
Tenor
Art. 3 des Haager Protokolls vom 23. November 2007 über das auf Unterhaltspflichten anzuwendende Recht, das mit dem Beschluss 2009/941/EG des Rates vom 30. November 2009 im Namen der Europäischen Gemeinschaft gebilligt wurde, ist dahin auszulegen, dass bei der Bestimmung des Rechts, das auf den Unterhaltsanspruch eines minderjährigen Kindes anzuwenden ist, das von einem Elternteil in das Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats verbracht wurde, allein der Umstand, dass ein Gericht dieses Mitgliedstaats im Rahmen eines gesonderten Verfahrens die Rückkehr dieses Kindes in den Staat angeordnet hat, in dem es unmittelbar vor seinem Verbringen mit seinen Eltern seinen gewöhnlichen Aufenthalt hatte, es noch nicht ausschließt, dass das Kind einen gewöhnlichen Aufenthalt im Hoheitsgebiet des genannten Mitgliedstaats begründen kann.
Tatbestand
In der Rechtssache
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Sąd Okręgowy w Poznaniu (Bezirksgericht Poznań, Polen) mit Entscheidung vom 10. November 2020, beim Gerichtshof eingegangen am 26. November 2020, in dem Verfahren
W. J.
gegen
L. J. und J. J., gesetzlich vertreten durch A. P.,
erlässt
DER GERICHTSHOF (Vierte Kammer)
unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten C. Lycourgos, der Richter S. Rodin und J.-C. Bonichot sowie der Richterinnen L. S. Rossi (Berichterstatterin) und O. Spineanu-Matei,
Generalanwalt: A. M. Collins,
Kanzler: A. Calot Escobar,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
- der polnischen Regierung, vertreten durch B. Majczyna als Bevollmächtigten,
- der französischen Regierung, vertreten durch A. Daniel und A.-L. Desjonquères als Bevollmächtigte,
- der Europäischen Kommission, vertreten durch D. Milanowska, M. Wilderspin und W. Wils als Bevollmächtigte,
aufgrund des nach Anhörung des Generalanwalts ergangenen Beschlusses, ohne Schlussanträge über die Rechtssache zu entscheiden,
folgendes
Urteil
Entscheidungsgründe
Rz. 1
Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 3 des Haager Protokolls vom 23. November 2007 über das auf Unterhaltspflichten anzuwendende Recht, das mit dem Beschluss 2009/941/EG des Rates vom 30. November 2009 (ABl. 2009, L 331, S. 17) im Namen der Europäischen Gemeinschaft gebilligt wurde (im Folgenden: Haager Protokoll).
Rz. 2
Dieses Ersuchen ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen W. J. auf der einen und L. J. und J. J., seinen beiden minderjährigen Kindern, die gesetzlich durch A. P., ihre Mutter, vertreten werden, auf der anderen Seite über die Begleichung einer Unterhaltsforderung durch W. J.
Rechtlicher Rahmen
Das Haager Übereinkommen von 1980
Rz. 3
Art. 12 Abs. 1 und 2 des am 25. Oktober 1980 in Den Haag geschlossenen Übereinkommens über die zivilrechtlichen Aspekte internationaler Kindesentführung (im Folgenden: Haager Übereinkommen von 1980) bestimmt:
„Ist ein Kind im Sinn des Artikels 3 widerrechtlich verbracht oder zurückgehalten worden und ist bei Eingang des Antrags bei dem Gericht oder der Verwaltungsbehörde des Vertragsstaats, in dem sich das Kind befindet, eine Frist von weniger als einem Jahr seit dem Verbringen oder Zurückhalten verstrichen, so ordnet das zuständige Gericht oder die zuständige Verwaltungsbehörde die sofortige Rückgabe des Kindes an.
Ist der Antrag erst nach Ablauf der in Absatz 1 bezeichneten Jahresfrist eingegangen, so ordnet das Gericht oder die Verwaltungsbehörde die Rückgabe des Kindes ebenfalls an, sofern nicht erwiesen ist, dass das Kind sich in seine neue Umgebung eingelebt hat.”
Rz. 4
Art. 13 des Haager Übereinkommens von 1980 sieht vor:
„Ungeachtet des Artikels 12 ist das Gericht oder die Verwaltungsbehörde des ersuchten Staates nicht verpflichtet, die Rückgabe des Kindes anzuordnen, wenn die Person, Behörde oder sonstige Stelle, die sich der Rückgabe des Kindes widersetzt, nachweist,
- dass die Person, Behörde oder sonstige Stelle, der die Sorge für die Person des Kindes zustand, das Sorgerecht zur Zeit des Verbringens oder Zurückhaltens tatsächlich nicht ausgeübt, dem Verbringen oder Zurückhalten zugestimmt oder dieses nachträglich genehmigt hat oder
- dass die Rückgabe mit der schwerwiegenden Gefahr eines körperlichen oder seelischen Schadens für das Kind verbunden ist oder das Kind auf andere Weise in eine unzumutbare Lage bringt.
Das Gericht oder die Verwaltungsbehörde kann es ferner ablehnen, die Rückgabe des Kindes anzuordnen, wenn festgestellt wird, dass sich das Kind der Rückgabe widersetzt und dass es ein Alter und eine ...