Entscheidungsstichwort (Thema)
Unternehmereigenschaft, Produktvertrieb durch mehrere BGB-Gesellschaften unter einer Marke, Pauschalregelung für Land- und Forstwirte
Leitsatz (amtlich)
1. Art. 4 Abs. 1 und Abs. 4 Unterabs. 1 der Sechsten Richtlinie 77/388/EWG des Rates vom 17. Mai 1977 zur Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Umsatzsteuern ‐ Gemeinsames Mehrwertsteuersystem: einheitliche steuerpflichtige Bemessungsgrundlage in der durch die Richtlinie 2004/66/EG des Rates vom 26. April 2004 geänderten Fassung sowie Art. 9 Abs. 1 Unterabs. 1 und Art. 10 der Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom 28. November 2006 über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem sind dahin auszulegen, dass mehrere Gesellschaften bürgerlichen Rechts wie die des Ausgangsverfahrens, die als solche gegenüber ihren Lieferanten, gegenüber öffentlichen Stellen und zu einem gewissen Grad gegenüber ihren Kunden eigenständig auftreten und von denen jede ihre eigene Produktion sicherstellt, indem sie im Wesentlichen ihre Produktionsmittel verwendet, die aber einen Großteil ihrer Produkte unter einer gemeinsamen Marke über eine Kapitalgesellschaft vertreiben, deren Anteile von den Mitgliedern der Gesellschaften bürgerlichen Rechts und anderen Angehörigen der betreffenden Familie gehalten werden, als mehrwertsteuerpflichtige eigenständige Unternehmer anzusehen sind.
2. Art. 25 der Richtlinie 77/388 in der durch die Richtlinie 2004/66 geänderten Fassung und Art. 296 der Richtlinie 2006/112 sind dahin auszulegen, dass sie der Möglichkeit, die Anwendung der in diesen Artikeln vorgesehenen gemeinsamen Pauschalregelung für landwirtschaftliche Erzeuger auf mehrere Gesellschaften bürgerlichen Rechts wie die des Ausgangsverfahrens, die als mehrwertsteuerpflichtige eigenständige Unternehmer angesehen werden und untereinander zusammenarbeiten, mit der Begründung abzulehnen, dass eine Kapitalgesellschaft, eine aus den Mitgliedern dieser Gesellschaften bürgerlichen Rechts gebildete Personenvereinigung oder eine aus der Kapitalgesellschaft und den Mitgliedern der Gesellschaften bürgerlichen Rechts gebildete Personenvereinigung aufgrund der Betriebsgröße oder der Rechtsform nicht unter die Pauschalregelung fällt, auch dann nicht entgegenstehen, wenn die Gesellschaften bürgerlichen Rechts nicht zu einer Gruppe von der Pauschalregelung ausgenommener Erzeuger gehören, sofern sie aufgrund ihrer Verbindungen zur Kapitalgesellschaft oder einer dieser Vereinigungen faktisch in der Lage sind, die Verwaltungskosten im Zusammenhang mit den sich aus der Anwendung der normalen oder der vereinfachten Mehrwertsteuerregelung ergebenden Aufgaben zu tragen, was das vorlegende Gericht zu prüfen hat.
3. Falls die gemeinsame Pauschalregelung für landwirtschaftliche Erzeuger für Gesellschaften bürgerlichen Rechts wie die des Ausgangsverfahrens grundsätzlich ausgeschlossen sein sollte, ist dieser Ausschluss für den Zeitraum vor dem Zeitpunkt wirksam, zu dem die dem Ausschluss zugrunde liegende Einschätzung vorgenommen wurde, sofern die Einschätzung innerhalb der Verjährungsfrist für das Handeln des Finanzamts erfolgt und ihre Folgen nicht bis zu einem Zeitpunkt vor Eintritt der ihr zugrunde liegenden Sach- und Rechtslage zurückwirken.
Normenkette
EWGRL 388/77 Art. 4 Abs. 1, 4; EGRL 112/2006 Art. 9 Abs. 1, Art. 10; EWGRL 388/77 Art. 25
Beteiligte
Verfahrensgang
Bundesfinanzgericht (Österreich) (Beschluss vom 29.06.2015; ABl. EU 2015, Nr. C 328/3) |
Tatbestand
„Vorlage zur Vorabentscheidung ‐ Steuerrecht ‐ Mehrwertsteuer ‐ Sechste Richtlinie 77/388/EWG ‐ Art. 4 Abs. 1 und 4 ‐ Richtlinie 2006/112/EG ‐ Art. 9 und 11 ‐ Begriff ‚Steuerpflichtiger‘ ‐ Gesellschaften bürgerlichen Rechts, die ihre Produkte unter einer gemeinsamen Marke und über eine Kapitalgesellschaft vertreiben ‐ Begriff ‚eigenständiger Unternehmer‘ ‐ Versagung der Eigenschaft als Steuerpflichtiger ‐ Rückwirkung ‐ Sechste Richtlinie 77/388 ‐ Art. 25 ‐ Richtlinie 2006/112 ‐ Art. 272 und 296 ‐ Pauschalregelung für landwirtschaftliche Erzeuger ‐ Ausnahme von der Pauschalregelung ‐ Rückwirkung“
In der Rechtssache C-340/15
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Bundesfinanzgericht (Österreich) mit Entscheidung vom 29. Juni 2015, beim Gerichtshof eingegangen am 7. Juli 2015, in dem Verfahren
Christine Nigl u. a.
gegen
Finanzamt Waldviertel
erlässt
DER GERICHTSHOF (Dritte Kammer)
unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten L. Bay Larsen sowie der Richter M. Vilaras (Berichterstatter), J. Malenovský, M. Safjan und D. Šváby,
Generalanwalt: M. Szpunar,
Kanzler: K. Malacek, Verwaltungsrat,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 13. April 2016,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
‐ von Frau Nigl u. a., vertreten durch Rechtsanwalt H. Nigl und J. Auer,
‐ der österreichischen Regierung, vertreten durch C. Pesendorfer, S. Pfeiffer und F. Koppensteiner als Bevollmächtigte,
‐ der Europäischen Kommission, vert...