Entscheidungsstichwort (Thema)
Vorlage zur Vorabentscheidung. Missbräuchliche Klauseln in Verbraucherverträgen. Wirkungen der Feststellung der Missbräuchlichkeit einer Klausel. Wille des Verbrauchers, den Vertrag durch Änderung der darin enthaltenen missbräuchlichen Klausel aufrechtzuerhalten. Befugnisse des nationalen Gerichts
Normenkette
Richtlinie 93/13/EWG
Beteiligte
Tenor
Art. 6 Abs. 1 der Richtlinie 93/13/EWG des Rates vom 5. April 1993 über missbräuchliche Klauseln in Verbraucherverträgen
ist dahin auszulegen, dass
er dem entgegensteht, dass ein nationales Gericht, wenn es festgestellt hat, dass ein Vertrag nach Aufhebung einer missbräuchlichen Klausel nicht aufrechterhalten werden kann und der betreffende Verbraucher den Willen zum Ausdruck bringt, dass dieser Vertrag durch Änderung dieser Klausel aufrechterhalten werden soll, über die zur Wiederherstellung der tatsächlichen Ausgewogenheit der Rechte und Pflichten der Vertragsparteien zu ergreifenden Maßnahmen entscheidet, ohne zuvor die Folgen einer Nichtigerklärung des Vertrags in seiner Gesamtheit zu prüfen; dies gilt auch dann, wenn das Gericht die Möglichkeit hat, die Klausel durch eine dispositive Bestimmung des nationalen Rechts oder durch eine Bestimmung, die im Fall einer entsprechenden Vereinbarung der Parteien anwendbar ist, zu ersetzen.
Tatbestand
In der Rechtssache C-645/22
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Lietuvos Aukščiausiasis Teismas (Oberstes Gericht Litauens) mit Entscheidung vom 12. Oktober 2022, beim Gerichtshof eingegangen am 13. Oktober 2022, in dem Verfahren
R. A. u. a.
gegen
Luminor Bank AS,handelnd durch die Niederlassung der Luminor Bank AS Lietuvos skyrius,
erlässt
DER GERICHTSHOF (Neunte Kammer)
unter Mitwirkung der Kammerpräsidentin O. Spineanu-Matei (Berichterstatterin), des Richters S. Rodin und der Richterin L. S. Rossi,
Generalanwalt: A. M. Collins,
Kanzler: A. Calot Escobar,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
- – der Luminor Bank AS, handelnd durch die Niederlassung der Luminor Bank AS Lietuvos skyrius, vertreten durch K. Karpickis, A. Klezys, Advokatai, und A. Sovaitė,
- – der litauischen Regierung, vertreten durch K. Dieninis, S. Grigonis und V. Kazlauskaitė-Švenčionienė als Bevollmächtigte,
- – der portugiesischen Regierung, vertreten durch P. Barros da Costa, A. Cunha, I. Gameiro und L. Medeiros als Bevollmächtigte,
- – der Europäischen Kommission, vertreten durch J. Jokubauskaitė und N. Ruiz García als Bevollmächtigte,
aufgrund des nach Anhörung des Generalanwalts ergangenen Beschlusses, ohne Schlussanträge über die Rechtssache zu entscheiden,
folgendes
Urteil
Entscheidungsgründe
Rz. 1
Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 6 Abs. 1 und Art. 7 Abs. 1 der Richtlinie 93/13/EWG des Rates vom 5. April 1993 über missbräuchliche Klauseln in Verbraucherverträgen (ABl. 1993, L 95, S. 29).
Rz. 2
Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen R. A. u. a. gegen die Luminor Bank AS, handelnd durch die Niederlassung der Luminor Bank AS Lietuvos skyrius, wegen der Missbräuchlichkeit von Klauseln in mehreren zwischen diesen Parteien geschlossenen Darlehensverträgen und der sich daraus ergebenden Folgen.
Rechtlicher Rahmen
Unionsrecht
Rz. 3
In den Erwägungsgründen 21 und 24 der Richtlinie 93/13 heißt es:
„Die Mitgliedstaaten müssen sicherstellen, dass in von einem Gewerbetreibenden mit Verbrauchern abgeschlossenen Verträgen keine missbräuchlichen Klauseln verwendet werden. …
…
Die Gerichte oder Verwaltungsbehörden der Mitgliedstaaten müssen über angemessene und wirksame Mittel verfügen, damit der Verwendung missbräuchlicher Klauseln in Verbraucherverträgen ein Ende gesetzt wird“.
Rz. 4
Art. 6 Abs. 1 der Richtlinie 93/13 bestimmt:
„Die Mitgliedstaaten sehen vor, dass missbräuchliche Klauseln in Verträgen, die ein Gewerbetreibender mit einem Verbraucher geschlossen hat, für den Verbraucher unverbindlich sind, und legen die Bedingungen hierfür in ihren innerstaatlichen Rechtsvorschriften fest; sie sehen ferner vor, dass der Vertrag für beide Parteien auf derselben Grundlage bindend bleibt, wenn er ohne die missbräuchlichen Klauseln bestehen kann.“
Rz. 5
Art. 7 Abs. 1 der Richtlinie 93/13 bestimmt:
„Die Mitgliedstaaten sorgen dafür, dass im Interesse der Verbraucher und der gewerbetreibenden Wettbewerber angemessene und wirksame Mittel vorhanden sind, damit der Verwendung missbräuchlicher Klauseln durch einen Gewerbetreibenden in den Verträgen, die er mit Verbrauchern schließt, ein Ende gesetzt wird.“
Litauisches Recht
Rz. 6
Art. 6.2284Abs. 8 des Lietuvos Respublikos civilinis kodeksas (Zivilgesetzbuch der Republik Litauen) bestimmt:
„Stellt das Gericht fest, dass eine oder mehrere Vertragsklausel(n) missbräuchlich ist/sind, so ist/sind diese Klausel(n) ab Vertragsschluss unwirksam, während die übrigen Vertragsklauseln für die Parteien verbindlich bleiben, sofern der Vertrag ohne die missbräuchl...