Entscheidungsstichwort (Thema)

Vorlage zur Vorabentscheidung. Personen, die internationalen Schutz beantragen. Grobe Verstöße gegen die Vorschriften der Unterbringungszentren oder grob gewalttätiges Verhalten. Reichweite des Rechts der Mitgliedstaaten, die anwendbaren Sanktionen festzulegen. Unbegleiteter Minderjähriger. Einschränkung oder Entzug der im Rahmen der Aufnahme gewährten materiellen Leistungen

 

Normenkette

Richtlinie 2013/33/EU Art. 20 Abs. 4-5

 

Beteiligte

Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts – Grenzkontrollen – Asylpolitik

Zubair Haqbin

Federaal Agentschap voor de opvang van asielzoekers

 

Tenor

Art. 20 Abs. 4 und 5 der Richtlinie 2013/33/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zur Festlegung von Normen für die Aufnahme von Personen, die internationalen Schutz beantragen, ist im Licht von Art. 1 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union dahin auszulegen, dass ein Mitgliedstaat unter den Sanktionen, die gegen einen Antragsteller für grobe Verstöße gegen die Vorschriften der Unterbringungszentren und grob gewalttätiges Verhalten verhängt werden können, keine Sanktion vorsehen kann, mit der die im Rahmen der Aufnahme gewährten materiellen Leistungen im Sinne von Art. 2 Buchst. f und g dieser Richtlinie, die sich auf Unterkunft, Verpflegung und Kleidung beziehen, auch nur zeitweilig entzogen werden, weil diese Sanktion dem Antragsteller die Möglichkeit nähme, seine elementarsten Bedürfnisse zu befriedigen. Bei der Verhängung anderer Sanktionen nach Art. 20 Abs. 4 der Richtlinie sind unter allen Umständen die in Abs. 5 dieses Artikels genannten Voraussetzungen, insbesondere die Wahrung des Verhältnismäßigkeitsprinzips und die Achtung der Menschenwürde, zu beachten. Im Fall eines unbegleiteten Minderjährigen müssen die Sanktionen im Hinblick insbesondere auf Art. 24 der Charta der Grundrechte unter besonderer Berücksichtigung des Kindeswohls ergehen.

 

Tatbestand

In der Rechtssache

betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Arbeidshof te Brussel (Arbeitsgerichtshof Brüssel, Belgien) mit Entscheidung vom 22. März 2018, beim Gerichtshof eingegangen am 29. März 2018, in dem Verfahren

Zubair Haqbin

gegen

Federaal Agentschap voor de opvang van asielzoekers

erlässt

DER GERICHTSHOF (Große Kammer)

unter Mitwirkung des Präsidenten K. Lenaerts, der Vizepräsidentin R. Silva de Lapuerta, der Kammerpräsidenten J.-C. Bonichot, M. Vilaras (Berichterstatter), M. Safjan und S. Rodin, der Richter L. Bay Larsen und T. von Danwitz, der Richterin C. Toader, der Richter D. Šváby und F. Biltgen, der Richterin K. Jürimäe und des Richters C. Lycourgos,

Generalanwalt: M. Campos Sánchez-Bordona,

Kanzler: M.-A. Gaudissart, Beigeordneter Kanzler,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 11. März 2019,

unter Berücksichtigung der Erklärungen

  • von Herrn Haqbin, vertreten durch B. Dhont und K. Verstrepen, advocaten,
  • der belgischen Regierung, vertreten durch C. Van Lul, C. Pochet und P. Cottin als Bevollmächtigte im Beistand von S. Ishaque und A. Detheux, advocaten,
  • der ungarischen Regierung, vertreten durch M. Z. Fehér, G. Koós und M. M. Tátrai als Bevollmächtigte,
  • der niederländischen Regierung, vertreten durch M. K. Bulterman und P. Huurnink als Bevollmächtigte,
  • der Regierung des Vereinigten Königreichs, vertreten durch R. Fadoju als Bevollmächtigte im Beistand von D. Blundell, Barrister,
  • der Europäischen Kommission, vertreten durch M. Condou-Durande und G. Wils als Bevollmächtigte,

nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 6. Juni 2019

folgendes

Urteil

 

Entscheidungsgründe

Rz. 1

Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 20 der Richtlinie 2013/33/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zur Festlegung von Normen für die Aufnahme von Personen, die internationalen Schutz beantragen (ABl. 2013, L 180, S. 96).

Rz. 2

Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen Herrn Zubair Haqbin und der Federaal Agentschap voor de opvang van asielzoekers (Föderalagentur für die Aufnahme von Asylbewerbern, Belgien) (im Folgenden: Fedasil) wegen eines Schadensersatzanspruchs, den Herr Haqbin gegen die Fedasil geltend macht, nachdem diese ihm mit zwei Entscheidungen die im Rahmen der Aufnahme gewährten materiellen Leistungen zeitweilig entzogen hat.

Rechtlicher Rahmen

Unionsrecht

Richtlinie 2013/33

Rz. 3

Gemäß Art. 32 der Richtlinie 2013/33 wurde die Richtlinie 2003/9/EG des Rates vom 27. Januar 2003 zur Festlegung von Mindestnormen für die Aufnahme von Asylbewerbern in den Mitgliedstaaten (ABl. 2003, L 31, S. 18) im Verhältnis zu den durch diese Richtlinie gebundenen Mitgliedstaaten durch erstere Richtlinie aufgehoben und ersetzt.

Rz. 4

Die Erwägungsgründe 7, 25 und 35 der Richtlinie 2013/33 lauten:

„(7) Angesichts der Bewertungsergebnisse in Bezug auf die Umsetzung der Instrumente der ersten Phase empfiehlt es sich in dieser Phase, die der Richtlinie [2003/9] zugrunde liegenden Prinzipien im Hinblick ...

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