Entscheidungsstichwort (Thema)
Vorlage zur Vorabentscheidung. Personen, die internationalen Schutz beantragen. Grob gewalttätiges Verhalten. Recht der Mitgliedstaaten, die anwendbaren Sanktionen festzulegen. Umfang. Entzug der im Rahmen der Aufnahme gewährten materiellen Leistungen
Normenkette
Richtlinie 2013/33/EU Art. 20 Abs. 4-5
Beteiligte
Tenor
1. Art. 20 Abs. 4 der Richtlinie 2013/33/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zur Festlegung von Normen für die Aufnahme von Personen, die internationalen Schutz beantragen, ist dahin auszulegen, dass er auf ein grob gewalttätiges Verhalten außerhalb eines Unterbringungszentrums anwendbar ist.
2. Art. 20 Abs. 4 und 5 der Richtlinie 2013/33 ist dahin auszulegen, dass er der Verhängung einer Sanktion, die im Entzug der im Rahmen der Aufnahme gewährten materiellen Leistungen im Sinne von Art. 2 Buchst. f und g dieser Richtlinie betreffend Unterkunft, Verpflegung oder Kleidung besteht, gegen einen Antragsteller auf internationalen Schutz, der sich gegenüber öffentlichen Bediensteten grob gewalttätig verhalten hat, entgegensteht, wenn sie die Wirkung hätte, diesem Antragsteller die Möglichkeit zu nehmen, seine elementarsten Bedürfnisse zu befriedigen. Bei der Verhängung anderer Sanktionen nach Art. 20 Abs. 4 der Richtlinie sind unter allen Umständen die in Abs. 5 dieses Artikels genannten Voraussetzungen, insbesondere die Wahrung des Verhältnismäßigkeitsprinzips und die Achtung der Menschenwürde, zu beachten.
Tatbestand
In der Rechtssache
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Consiglio di Stato (Staatsrat, Italien) mit Entscheidung vom 30. Dezember 2020, beim Gerichtshof eingegangen am 9. Juli 2021, in dem Verfahren
Ministero dell'Interno
gegen
TO
erlässt
DER GERICHTSHOF (Zehnte Kammer)
unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten I. Jarukaitis sowie der Richter D. Gratsias (Berichterstatter) und Z. Csehi,
Generalanwalt: J. Richard de la Tour,
Kanzler: A. Calot Escobar,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
- der italienischen Regierung, vertreten durch G. Palmieri als Bevollmächtigte im Beistand von L. D'Ascia und D. G. Pintus, Avvocati dello Stato,
- der belgischen Regierung, vertreten durch M. Jacobs und M. Van Regemorter als Bevollmächtigte im Beistand von A. Detheux, Avocat,
- der tschechischen Regierung, vertreten durch M. Smolek und J. Vláčil als Bevollmächtigte,
- der deutschen Regierung, vertreten durch J. Möller und A. Hoesch als Bevollmächtigte,
- der niederländischen Regierung, vertreten durch M. K. Bulterman und M. Gijzen als Bevollmächtigte,
- der Europäischen Kommission, vertreten durch A. Azéma und E. Montaguti als Bevollmächtigte,
aufgrund des nach Anhörung des Generalanwalts ergangenen Beschlusses, ohne Schlussanträge über die Rechtssache zu entscheiden,
folgendes
Urteil
Entscheidungsgründe
Rz. 1
Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 20 Abs. 4 und 5 der Richtlinie 2013/33/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zur Festlegung von Normen für die Aufnahme von Personen, die internationalen Schutz beantragen (ABl. 2013, L 180, S. 96).
Rz. 2
Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen dem Ministero dell'Interno (Innenministerium, Italien) und TO über dessen Antrag auf Aufhebung einer Entscheidung der Prefettura di Firenze (Präfektur Florenz, Italien), mit der er von den im Rahmen der Aufnahme gewährten materiellen Leistungen ausgeschlossen wurde.
Rechtlicher Rahmen
Unionsrecht
Rz. 3
Zweck der Richtlinie 2013/33 ist nach ihrem Art. 1 die Festlegung von Normen für die Aufnahme von Antragstellern auf internationalen Schutz (im Folgenden: Antragsteller) in den Mitgliedstaaten.
Rz. 4
Art. 2 („Begriffsbestimmungen”) dieser Richtlinie bestimmt:
„Im Sinne dieser Richtlinie bezeichnet der Ausdruck:
…
f) ‚im Rahmen der Aufnahmebedingungen gewährte Vorteile’ sämtliche Maßnahmen, die die Mitgliedstaaten im Einklang mit dieser Richtlinie zugunsten von Antragstellern treffen;
g) ‚im Rahmen der Aufnahme gewährte materielle Leistungen’ Unterkunft, Verpflegung und Kleidung in Form von Sach- oder Geldleistungen oder Gutscheinen oder einer Kombination davon sowie Geldleistungen zur Deckung des täglichen Bedarfs;
…
i) ‚Unterbringungszentrum’ jede Einrichtung, die als Sammelunterkunft für Antragsteller dient;
…”
Rz. 5
Art. 8 („Haft”) der Richtlinie 2013/33 sieht in Abs. 3 vor:
„Ein Antragsteller darf nur in Haft genommen werden,
…
e) wenn dies aus Gründen der nationalen Sicherheit oder der öffentlichen Ordnung erforderlich ist,
…”
Rz. 6
Art. 17 („Allgemeine Bestimmungen zu materiellen Leistungen im Rahmen der Aufnahme und zur medizinischen Versorgung”) der Richtlinie 2013/33 sieht in den Abs. 1 bis 4 vor:
„(1) Die Mitgliedstaaten tragen dafür Sorge, dass Antragsteller ab Stellung des Antrags auf internationalen Schutz im Rahmen der Aufnahme materielle Leistungen in Anspruch nehmen können.
(2) Die Mitgliedstaaten sorgen dafür, dass ...