Entscheidungsstichwort (Thema)
Vorlage zur Vorabentscheidung. Für das Verfahren zur Liquidation von Versicherungsunternehmen maßgebliches Recht. Entzug der Zulassung eines Versicherungsunternehmens. Bestellung eines vorläufigen Liquidators. Begriff ‚Entscheidung über die Eröffnung eines Verfahrens zur Liquidation eines Versicherungsunternehmens’. Fehlen einer gerichtlichen Entscheidung über die Eröffnung des Liquidationsverfahrens im Herkunftsmitgliedstaat. Aussetzung der Gerichtsverfahren gegen das betreffende Versicherungsunternehmen in anderen Mitgliedstaaten als dessen Herkunftsmitgliedstaat
Normenkette
EGRL 138/2009 Art. 274
Beteiligte
Bulstrad Vienna Insurance Group |
Bulstrad Vienna Insurance Group AD |
Olympic Insurance Company Ltd |
Tenor
1. Art. 274 der Richtlinie 2009/138/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 25. November 2009 betreffend die Aufnahme und Ausübung der Versicherungs- und der Rückversicherungstätigkeit (Solvabilität II) in der durch die Richtlinie 2013/58/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 11. Dezember 2013 geänderten Fassung ist dahin auszulegen, dass die Entscheidung der zuständigen Behörde, dem betreffenden Versicherungsunternehmen die Zulassung zu entziehen und einen vorläufigen Liquidator zu bestellen, nur dann eine „Entscheidung über die Eröffnung eines Verfahrens zur Liquidation eines Versicherungsunternehmens” im Sinne dieses Artikels darstellen kann, wenn das Recht des Herkunftsmitgliedstaats dieses Versicherungsunternehmens entweder vorsieht, dass dieser vorläufige Liquidator befugt ist, das Vermögen des Unternehmens zu verwerten und den Erlös unter dessen Gläubigern zu verteilen, oder dass der Entzug der Zulassung des Versicherungsunternehmens automatisch zur Eröffnung des Liquidationsverfahrens führt, ohne dass eine andere Behörde hierfür eine förmliche Entscheidung erlassen müsste.
2. Art. 274 der Richtlinie 2009/138 in der durch die Richtlinie 2013/58 geänderten Fassung ist dahin auszulegen, dass dann, wenn die Voraussetzungen, unter denen eine Entscheidung über den Entzug der Zulassung eines Versicherungsunternehmens und über die Bestellung eines vorläufigen Liquidators für dieses Unternehmen eine „Entscheidung über die Eröffnung eines Verfahrens zur Liquidation eines Versicherungsunternehmens” im Sinne dieses Artikels darstellt, nicht erfüllt sind, dieser Artikel keine Verpflichtung für die Gerichte der anderen Mitgliedstaaten enthält, das Recht des Herkunftsmitgliedstaats des betreffenden Versicherungsunternehmens anzuwenden, wonach alle gegen ein solches Unternehmen eingeleiteten Gerichtsverfahren auszusetzen sind.
Tatbestand
In der Rechtssache
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Sofiyski rayonen sad (Kreisgericht Sofia, Bulgarien) mit Entscheidung vom 27. Mai 2019, beim Gerichtshof eingegangen am 4. Juni 2019, in dem Verfahren
Bulstrad Vienna Insurance Group AD
gegen
Olympic Insurance Company Ltd
erlässt
DER GERICHTSHOF (Erste Kammer)
unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten J.-C. Bonichot, des Richters L. Bay Larsen, der Richterin C. Toader sowie der Richter M. Safjan (Berichterstatter) und N. Jääskinen,
Generalanwalt: G. Hogan,
Kanzler: A. Calot Escobar,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
- der bulgarischen Regierung, vertreten durch T. Mitova und E. Petranova als Bevollmächtigte,
- der Europäischen Kommission, vertreten durch H. Tserepa-Lacombe und Y. G. Marinova als Bevollmächtigte,
nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 16. Juli 2020
folgendes
Urteil
Entscheidungsgründe
Rz. 1
Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 274 der Richtlinie 2009/138/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 25. November 2009 betreffend die Aufnahme und Ausübung der Versicherungs- und der Rückversicherungstätigkeit (Solvabilität II) (ABl. 2009, L 335, S. 1) in der durch die Richtlinie 2013/58/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 11. Dezember 2013 (ABl. 2013, L 341, S. 1) geänderten Fassung (im Folgenden: Richtlinie 2009/138).
Rz. 2
Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen dem Versicherungsunternehmen Bulstrad Vienna Insurance Group AD (im Folgenden: Bulstrad) und dem Versicherungsunternehmen Olympic Insurance Company Ltd (im Folgenden: Olympic) über die Zahlung einer Versicherungsentschädigung.
Rechtlicher Rahmen
Unionsrecht
Rz. 3
Die Erwägungsgründe 117 bis 119, 123, 125, 126 und 130 der Richtlinie 2009/138 lauten:
„(117) Da die einzelstaatlichen Rechtsvorschriften für Sanierungsmaßnahmen und Liquidationsverfahren nicht harmonisiert sind, empfiehlt es sich im Rahmen des Binnenmarktes, die gegenseitige Anerkennung von Sanierungsmaßnahmen und Liquidationsvorschriften für Versicherungsunternehmen sowie die nötige Zusammenarbeit sicherzustellen, wobei den Geboten der Einheit, der Universalität, der Abstimmung und der Publizität dieser Maßnahmen sowie der Gleichbehandlung und des Schutzes der Versicherungsgläubiger Rechnung zu tragen i...