Entscheidungsstichwort (Thema)
Vorlage zur Vorabentscheidung. Niederlassungsfreiheit. Freier Dienstleistungsverkehr. Versicherungs- und Rückversicherungstätigkeit. Liquidation von Versicherungsunternehmen. Wirkungen von Liquidationsverfahren auf anhängige Rechtsstreitigkeiten. Ausnahme von der Anwendung der lex concursus. Lex processus
Normenkette
EGRL 138/2009 Art. 292
Beteiligte
Paget Approbois und Alpha Insurance |
Tenor
1. Art. 292 der Richtlinie 2009/138/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 25. November 2009 betreffend die Aufnahme und Ausübung der Versicherungs- und der Rückversicherungstätigkeit (Solvabilität II) ist dahin auszulegen, dass der in diesem Artikel genannte Begriff „anhängiger Rechtsstreit über einen Vermögensgegenstand oder ein Recht der Masse” einen anhängigen Rechtsstreit umfasst, der eine Klage auf Versicherungsleistung eines Versicherungsnehmers wegen in einem Mitgliedstaat entstandener Schäden gegen ein Versicherungsunternehmen zum Gegenstand hat, das sich in einem anderen Mitgliedstaat in einem Liquidationsverfahren befindet.
2. Art. 292 der Richtlinie 2009/138 ist dahin auszulegen, dass das Recht des Mitgliedstaats, in dessen Hoheitsgebiet der Rechtsstreit anhängig ist, im Sinne dieses Artikels alle Wirkungen des Liquidationsverfahrens auf diesen Rechtsstreit regeln soll. Insbesondere sind die Bestimmungen des Rechts dieses Mitgliedstaats anzuwenden, die erstens vorsehen, dass die Eröffnung eines solchen Verfahrens zur Unterbrechung des anhängigen Rechtsstreits führt, die zweitens die Fortsetzung des Verfahrens davon abhängig machen, dass der Gläubiger seine Forderung einer Versicherungsleistung gegen das Versicherungsunternehmen angemeldet hat und dass den für die Durchführung des Liquidationsverfahrens zuständigen Organen der Streit verkündet worden ist, und die drittens jede Verurteilung zur Zahlung einer Entschädigung untersagen, da diese Forderung nur mehr als bestehend festgestellt und ihrer Höhe nach festgesetzt werden kann, sofern solche Bestimmungen grundsätzlich nicht in die dem Recht des Herkunftsmitgliedstaats vorbehaltene Zuständigkeit nach Art. 274 Abs. 2 der Richtlinie eingreifen.
Tatbestand
In der Rechtssache
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht von der Cour de cassation (Kassationsgerichtshof, Frankreich) mit Entscheidung vom 17. Dezember 2020, beim Gerichtshof eingegangen am 28. Dezember 2020, in dem Verfahren
Paget Approbois SAS
gegen
Depeyre entreprises SARL,
Alpha Insurance A/S
erlässt
DER GERICHTSHOF (Dritte Kammer)
unter Mitwirkung der Präsidentin der Zweiten Kammer A. Prechal in Wahrnehmung der Aufgaben des Präsidenten der Dritten Kammer, der Richter J. Passer und F. Biltgen, der Richterin L. S. Rossi (Berichterstatterin) und des Richters N. Wahl,
Generalanwalt: M. Szpunar,
Kanzler: A. Calot Escobar,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
- der Alpha Insurance A/S, vertreten durch F. Rocheteau, avocat,
- der französischen Regierung, vertreten durch E. Leclerc und A.-L. Desjonquères als Bevollmächtigte,
- der Europäischen Kommission, vertreten durch D. Triantafyllou und H. Tserepa-Lacombe als Bevollmächtigte,
aufgrund des nach Anhörung des Generalanwalts ergangenen Beschlusses, ohne Schlussanträge über die Rechtssache zu entscheiden,
folgendes
Urteil
Entscheidungsgründe
Rz. 1
Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 292 der Richtlinie 2009/138/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 25. November 2009 betreffend die Aufnahme und Ausübung der Versicherungs- und der Rückversicherungstätigkeit (Solvabilität II) (ABl. 2009, L 335, S. 1).
Rz. 2
Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen Paget Approbois (im Folgenden: Paget) einerseits und der Depeyre entreprises SARL (im Folgenden: Depeyre) und der Alpha Insurance A/S andererseits über die Zahlung einer Versicherungsentschädigung wegen Schäden, die Paget infolge eines Schadensfalls erlitten hat.
Rechtlicher Rahmen
Unionsrecht
Richtlinie 2009/138
Rz. 3
Die Erwägungsgründe 3, 117, 123 bis 125 und 130 der Richtlinie 2009/138 lauten:
„(3) Im Interesse eines reibungslos funktionierenden Binnenmarktes sollten abgestimmte Regelungen für die Beaufsichtigung von Versicherungsgruppen und – mit Blick auf den Gläubigerschutz – für die Sanierungs- und Liquidationsverfahren im Falle von Versicherungsunternehmen aufgestellt werden.
…
(117) Da die einzelstaatlichen Rechtsvorschriften für Sanierungsmaßnahmen und Liquidationsverfahren nicht harmonisiert sind, empfiehlt es sich im Rahmen des Binnenmarktes, die gegenseitige Anerkennung von Sanierungsmaßnahmen und Liquidationsvorschriften für Versicherungsunternehmen sowie die nötige Zusammenarbeit sicherzustellen, wobei den Geboten der Einheit, der Universalität, der Abstimmung und der Publizität dieser Maßnahmen sowie der Gleichbehandlung und des Schutzes der Versicherungsgläubiger Rechnung zu tragen ist.
…
(123) Die zuständigen Behö...