Entscheidungsstichwort (Thema)
Vorlage zur Vorabentscheidung. Recht der Unionsbürger und ihrer Familienangehörigen, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten. Beschränkung des Einreise- und Aufenthaltsrechts aus Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit oder Gesundheit. Verhalten, das eine tatsächliche, gegenwärtige und erhebliche Gefahr darstellt, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt. Verweigerung der Ausstellung einer befristeten Aufenthaltskarte für Familienangehörige eines Unionsbürgers aufgrund einer Kriminalakte. Negativer Polizeibericht aufgrund einer Festnahme
Normenkette
Richtlinie 2004/38/EG Art. 27
Beteiligte
Subdelegación del Gobierno en Barcelona |
Tenor
Art. 27 Abs. 1 und 2 der Richtlinie 2004/38/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 über das Recht der Unionsbürger und ihrer Familienangehörigen, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten, zur Änderung der Verordnung (EWG) Nr. 1612/68 und zur Aufhebung der Richtlinien 64/221/EWG, 68/360/EWG, 72/194/EWG, 73/148/EWG, 75/34/EWG, 75/35/EWG, 90/364/EWG, 90/365/EWG und 93/96/EWG
ist dahin auszulegen, dass
er es der zuständigen nationalen Behörde nicht verwehrt, eine frühere Festnahme des Betroffenen zu berücksichtigen, um zu beurteilen, ob dessen Verhalten eine tatsächliche, gegenwärtige und erhebliche Gefahr darstellt, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt, sofern die der Festnahme zugrunde liegenden Tatsachen sowie deren etwaige gerichtliche Folgen im Rahmen der umfassenden Prüfung dieses Verhaltens ausdrücklich und eingehend berücksichtigt werden.
Tatbestand
In der Rechtssache C-62/23
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Juzgado de lo Contencioso-Administrativo no5 de Barcelona (Verwaltungsgericht Nr. 5 Barcelona, Spanien) mit Entscheidung vom 9. Januar 2023, beim Gerichtshof eingegangen am 6. Februar 2023, in dem Verfahren
Pedro Francisco
gegen
Subdelegación del Gobierno en Barcelona
erlässt
DER GERICHTSHOF (Zehnte Kammer)
unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten Z. Csehi, des Präsidenten der Fünften Kammer E. Regan (Berichterstatter) und des Richters D. Gratsias,
Generalanwalt: M. Szpunar,
Kanzler: A. Calot Escobar,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
- – der spanischen Regierung, vertreten durch A. Pérez-Zurita Gutiérrez als Bevollmächtigte,
- – der Europäischen Kommission, vertreten durch J. Baquero Cruz und E. Montaguti als Bevollmächtigte,
aufgrund des nach Anhörung des Generalanwalts ergangenen Beschlusses, ohne Schlussanträge über die Rechtssache zu entscheiden,
folgendes
Urteil
Entscheidungsgründe
Rz. 1
Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 27 Abs. 1 und 2 der Richtlinie 2004/38/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 über das Recht der Unionsbürger und ihrer Familienangehörigen, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten, zur Änderung der Verordnung (EWG) Nr. 1612/68 und zur Aufhebung der Richtlinien 64/221/EWG, 68/360/EWG, 72/194/EWG, 73/148/EWG, 75/34/EWG, 75/35/EWG, 90/364/EWG, 90/365/EWG und 93/96/EWG (ABl. 2004, L 158, S. 77, berichtigt in ABl. 2004, L 229, S. 35).
Rz. 2
Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen Herrn Pedro Francisco und der Subdelegación del Gobierno en Barcelona (Unterdelegation der Regierung in Barcelona, Spanien) (im Folgenden: zuständige Behörde) über die Ablehnung seines Antrags auf Ausstellung einer befristeten Aufenthaltskarte als Familienangehöriger eines Unionsbürgers.
Rechtlicher Rahmen
Unionsrecht
Rz. 3
Art. 2 der Richtlinie 2004/38 bestimmt:
„Im Sinne dieser Richtlinie bezeichnet der Ausdruck
…
2. ‚Familienangehöriger‘
…
b) den Lebenspartner, mit dem der Unionsbürger auf der Grundlage der Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats eine eingetragene Partnerschaft eingegangen ist, sofern nach den Rechtsvorschriften des Aufnahmemitgliedstaats die eingetragene Partnerschaft der Ehe gleichgestellt ist und die in den einschlägigen Rechtsvorschriften des Aufnahmemitgliedstaats vorgesehenen Bedingungen erfüllt sind;
…“
Rz. 4
In Art. 10 Abs. 1 dieser Richtlinie heißt es:
„Zum Nachweis des Aufenthaltsrechts der Familienangehörigen eines Unionsbürgers, die nicht die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats besitzen, wird spätestens sechs Monate nach Einreichung des betreffenden Antrags eine ‚Aufenthaltskarte für Familienangehörige eines Unionsbürgers‘ ausgestellt. Eine Bescheinigung über die Einreichung des Antrags auf Ausstellung einer Aufenthaltskarte wird unverzüglich ausgestellt.“
Rz. 5
Art. 27 Abs. 1 und 2 der Richtlinie bestimmt:
„(1) Vorbehaltlich der Bestimmungen dieses Kapitels dürfen die Mitgliedstaaten die Freizügigkeit und das Aufenthaltsrecht eines Unionsbürgers oder seiner Familienangehörigen, ungeachtet ihrer Staatsangehörigkeit, aus Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit oder Gesundheit beschränken. Di...