Entscheidungsstichwort (Thema)
Vorlage zur Vorabentscheidung. Gemeinsames Mehrwertsteuersystem. Anwendbarkeit. Leistungen von Insolvenzverwaltern und Liquidatoren. Kontinuierliche Leistungen. Vorsteuerabzug. Ausgaben im Zusammenhang mit dem Recht zur Benutzung eines Handelsnamens. Verteidigungsrechte. Anspruch auf rechtliches Gehör
Normenkette
EGRL 112/2006 Art. 64 Abs. 1, Art. 64, 168 Buchst.a
Beteiligte
Administraţia Judeţeana a Finanţelor Publice (AJFP) Cluj |
Direcţia Generală Regională a Finanţelor Publice (DGRFP) Cluj-Napoca |
Verfahrensgang
Curtea de Apel Cluj (Rumänien) (Beschluss vom 15.07.2021; ABl. EU 2023, Nr. C 94/11) |
Tenor
1. Art. 64 der Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom 28. November 2006 über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem in der durch die Richtlinie 2008/117/EG des Rates vom 16. Dezember 2008 geänderten Fassung
ist dahin auszulegen, dass
während eines bestimmten Zeitraums kontinuierlich erbrachte Dienstleistungen wie diejenigen, die nach rumänischem Recht von Insolvenzverwaltern und Liquidatoren zugunsten von Unternehmen erbracht werden, die sich in Insolvenzverfahren befinden, in den Anwendungsbereich von Abs. 1 dieses Artikels fallen, da diese Dienstleistungen – vorbehaltlich der dem vorlegenden Gericht obliegenden Überprüfungen – zu aufeinanderfolgenden Abrechnungen oder Zahlungen Anlass geben.
2. Art. 64 Abs. 1 der Richtlinie 2006/112 in der durch die Richtlinie 2008/117 geänderten Fassung
ist dahin auszulegen, dass
diese Bestimmung in dem Fall, dass die Zahlung der Vergütung für in ihren Anwendungsbereich fallende Leistungen wegen unzureichender Mittel auf den Konten des Schuldners nicht erfolgen kann, nicht die Annahme zulässt, dass der Mehrwertsteueranspruch erst zum Zeitpunkt der tatsächlichen Vereinnahmung der Vergütung entsteht.
3. Art. 168 Buchst. a der Richtlinie 2006/112 in der durch die Richtlinie 2008/117 geänderten Fassung
ist dahin auszulegen, dass
zur Feststellung eines direkten und unmittelbaren Zusammenhangs zwischen einem bestimmten Eingangsumsatz und zum Vorsteuerabzug berechtigenden Ausgangsumsätzen der objektive Inhalt dieser Umsätze zu bestimmen ist, wofür alle Umstände zu berücksichtigen sind, unter denen diese Umsätze getätigt wurden, d. h. insbesondere die tatsächliche Verwendung der vom Steuerpflichtigen auf einer vorausgehenden Umsatzstufe erworbenen Gegenstände und Dienstleistungen sowie der ausschließliche Grund für diesen Erwerb, ohne dass eine Steigerung des Umsatzes bzw. des Umfangs der besteuerten Umsätze insoweit relevant wäre.
4. Der allgemeine unionsrechtliche Grundsatz der Wahrung der Verteidigungsrechte
ist dahin auszulegen, dass
eine am Ende eines Verwaltungsverfahrens über einen Einspruch gegen einen Mehrwertsteuerbescheid erlassene Entscheidung, die die zuständige Behörde auf neue Sach- und Rechtsgründe gestützt hat, zu denen der Betroffene nicht Stellung nehmen konnte, für nichtig erklärt werden muss, wenn das Verfahren ohne diese Regelwidrigkeit zu einem anderen Ergebnis hätte führen können, auch wenn auf Antrag des Betroffenen die Vollziehung des Steuerbescheids parallel zu der gegen diesen Bescheid erhobenen Klage ausgesetzt wurde.
Tatbestand
In der Rechtssache
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht von der Curtea de Apel Cluj (Berufungsgericht Cluj, Rumänien) mit Entscheidung vom 15. Juli 2021, beim Gerichtshof eingegangen am 8. November 2022, in dem Verfahren
C SPRL
gegen
Administraţia Judeţeana a Finanţelor Publice (AJFP) Cluj,
Direcţia Generală Regională a Finanţelor Publice (DGRFP) Cluj-Napoca
erlässt
DER GERICHTSHOF (Neunte Kammer)
unter Mitwirkung der Kammerpräsidentin O. Spineanu-Matei sowie der Richter J.-C. Bonichot (Berichterstatter) und S. Rodin,
Generalanwalt: N. Emiliou,
Kanzler: A. Calot Escobar,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
- der C SPRL, vertreten durch A. Coroian, A. Madar-Petran und C. A. Paun, Avocati,
- der rumänischen Regierung, vertreten durch R. Antonie, E. Gane, und A. Rotăreanu als Bevollmächtigte,
- der Europäischen Kommission, vertreten durch A. Armenia und J. Jokubauskaite als Bevollmächtigte,
aufgrund des nach Anhörung des Generalanwalts ergangenen Beschlusses, ohne Schlussanträge über die Rechtssache zu entscheiden,
folgendes
Urteil
Entscheidungsgründe
Rz. 1
Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung der Art. 63, 64, 66 und 168 der Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom 28. November 2006 über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem (ABl. 2006, L 347, S. 1) in der durch die Richtlinie 2008/117/EG des Rates vom 16. Dezember 2008 (ABl. 2009, L 14, S. 7) geänderten Fassung (im Folgenden: Richtlinie 2006/112) sowie des Grundsatzes der Wahrung der Verteidigungsrechte.
Rz. 2
Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen der C SPRL auf der einen Seite und der Administraţia Judeţeană a Finanţelor Publice (AJFP) Cluj (Kreisverwaltung für öffentliche Finanzen Cluj, Rumänien) und der Direcţia Generală Regională a Finanţelor Publice (DGRFP) Cluj-Napoca (Regional...