Entscheidungsstichwort (Thema)
Justizielle Zusammenarbeit in Zivilsachen. Vorlage zur Vorabentscheidung. Zuständigkeit in Fragen elterlicher Verantwortung. Verweisung an ein Gericht eines anderen Mitgliedstaats, das den Fall besser beurteilen kann. Voraussetzungen. Gericht des Mitgliedstaats, in den das Kind widerrechtlich verbracht wurde. Haager Übereinkommen von 1980. Wohl des Kindes
Normenkette
Verordnung (EG) Nr. 2201/2003 Art. 10, 15
Beteiligte
TT (Déplacement illicite de l’enfant) |
Tenor
1.Art. 15 der Verordnung (EG) Nr. 2201/2003 des Rates vom 27. November 2003 über die Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Ehesachen und in Verfahren betreffend die elterliche Verantwortung und zur Aufhebung der Verordnung (EG) Nr. 1347/2000
ist dahin auszulegen, dass
das Gericht eines Mitgliedstaats, das nach Art. 10 dieser Verordnung in der Hauptsache für die Entscheidung einer Frage der elterlichen Verantwortung zuständig ist, in Ausnahmefällen die in Art. 15 Abs. 1 Buchst. b dieser Verordnung vorgesehene Verweisung an ein Gericht des Mitgliedstaats beantragen kann, in den das Kind von einem Elternteil widerrechtlich verbracht wurde.
2.Art. 15 Abs. 1 der Verordnung Nr. 2201/2003
ist dahin auszulegen, dass
die Möglichkeit des in Fragen der elterlichen Verantwortung für die Entscheidung in der Hauptsache zuständigen Gerichts eines Mitgliedstaats, die Verweisung dieses Falls an ein Gericht eines anderen Mitgliedstaats zu beantragen, ausschließlich den in dieser Bestimmung ausdrücklich genannten Voraussetzungen unterliegt. Bei der Prüfung derjenigen dieser Voraussetzungen, die den Umstand, dass es in dem anderen Mitgliedstaat ein Gericht gibt, das den Fall besser beurteilen kann, und das Wohl des Kindes betreffen, muss das Gericht des ersten Mitgliedstaats berücksichtigen, ob gemäß Art. 8 Abs. 1 und Art. 8 Abs. 3 Buchst. f des am 25. Oktober 1980 in Den Haag geschlossenen Übereinkommens über die zivilrechtlichen Aspekte internationaler Kindesentführung ein Verfahren zur Rückgabe dieses Kindes anhängig ist, das in dem Mitgliedstaat, in den das Kind von einem Elternteil widerrechtlich verbracht wurde, noch nicht rechtskräftig entschieden wurde.
Tatbestand
In der Rechtssache C-87/22
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Landesgericht Korneuburg (Österreich) mit Beschluss vom 4. Jänner 2022, beim Gerichtshof eingegangen am 9. Februar 2022, in dem Verfahren
TT
gegen
AK
erlässt
DER GERICHTSHOF (Vierte Kammer)
unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten C. Lycourgos, des Präsidenten des Gerichtshofs K. Lenaerts in Wahrnehmung der Aufgaben eines Richters der Vierten Kammer, der Richterin L. S. Rossi (Berichterstatterin), des Richters J.-C. Bonichot und der Richterin O. Spineanu-Matei,
Generalanwalt: P. Pikamäe,
Kanzler: D. Dittert, Referatsleiter,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 12. Jänner 2023,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
- – von TT, vertreten durch Z. Gáliková und M. Hrabovská, Advokátky, sowie Rechtsanwalt P. Hajek und Rechtsanwältin P. Rosenich,
- – von AK, vertreten durch Rechtsanwalt S. Lenzhofer und Rechtsanwältin L. Stelzer Páleníková,
- – der slowakischen Regierung, vertreten durch S. Ondrášiková und B. Ricziová als Bevollmächtigte,
- – der Europäischen Kommission, vertreten durch H. Leupold und W. Wils als Bevollmächtigte,
nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 23. März 2023
folgendes
Urteil
Entscheidungsgründe
Rz. 1
Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 15 der Verordnung (EG) Nr. 2201/2003 des Rates vom 27. November 2003 über die Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Ehesachen und in Verfahren betreffend die elterliche Verantwortung und zur Aufhebung der Verordnung (EG) Nr. 1347/2000 (ABl. 2003, L 338, S. 1).
Rz. 2
Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen TT, einem in Österreich wohnhaften slowakischen Staatsangehörigen, und AK, einer slowakischen Staatsangehörigen, über die Obsorge für die beiden gemeinsamen Kinder, die bei AK in der Slowakei wohnhaft sind.
Rechtlicher Rahmen
Haager Übereinkommen von 1980
Rz. 3
In Art. 6 des am 25. Oktober 1980 in Den Haag geschlossenen Übereinkommens über die zivilrechtlichen Aspekte internationaler Kindesentführung (im Folgenden: Haager Übereinkommen von 1980) heißt es:
„Jeder Vertragsstaat bestimmt eine zentrale Behörde, welche die ihr durch dieses Übereinkommen übertragenen Aufgaben wahrnimmt.“
Rz. 4
Art. 8 Abs. 1 und Art. 8 Abs. 3 Buchst. f dieses Übereinkommens sieht vor:
„Macht eine Person, Behörde oder sonstige Stelle geltend, ein Kind sei unter Verletzung des Sorgerechts verbracht oder zurückgehalten worden, so kann sie sich entweder an die für den gewöhnlichen Aufenthalt des Kindes zuständige zentrale Behörde oder an die zentrale Behörde eines anderen Vertragsstaats wenden, um mit deren Unterstützung die Rückgabe des Kindes sicherzustellen.
…
Der Antrag kann ...