Entscheidungsstichwort (Thema)
Vorlage zur Vorabentscheidung. Justizielle Zusammenarbeit in Zivilsachen. Zuständigkeit sowie Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Ehesachen und in Verfahren betreffend die elterliche Verantwortung. Sachlicher Anwendungsbereich. Von einem Dritten nach dem Tod eines der Ehegatten in Gang gesetztes Verfahren zur Ungültigerklärung einer Ehe. Zuständigkeit der Gerichte des Aufenthaltsmitgliedstaats des ‚Antragstellers’. Reichweite
Normenkette
Verordnung (EG) Nr. 2201/2003 Art. 1 Abs. 1 Buchst. a, Art. 3 Abs. 1
Beteiligte
Tenor
1. Art. 1 Abs. 1 Buchst. a der Verordnung (EG) Nr. 2201/2003 des Rates vom 27. November 2003 über die Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Ehesachen und in Verfahren betreffend die elterliche Verantwortung und zur Aufhebung der Verordnung (EG) Nr. 1347/2000 ist dahin auszulegen, dass ein von einem Dritten nach dem Tod eines der Ehegatten in Gang gesetztes Verfahren über die Ungültigerklärung einer Ehe in den Anwendungsbereich der Verordnung Nr. 2201/2003 fällt.
2. Art. 3 Abs. 1 Buchst. a fünfter und sechster Gedankenstrich der Verordnung Nr. 2201/2003 ist dahin auszulegen, dass eine andere Person als einer der Ehegatten, die ein Verfahren über die Ungültigerklärung einer Ehe in Gang setzt, sich nicht auf die in diesen Bestimmungen vorgesehenen Zuständigkeitsgrundlagen stützen kann.
Tatbestand
In der Rechtssache
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Sąd Apelacyjny w Warszawie (Berufungsgericht Warschau, Polen) mit Entscheidung vom 20. März 2015, beim Gerichtshof eingegangen am 17. Juni 2015, in dem Verfahren
Edyta Mikołajczyk
gegen
Marie Louise Czarnecka und
Stefan Czarnecki
erlässt
DER GERICHTSHOF (Zweite Kammer)
unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten M. Ilešič, der Richterin A. Prechal, des Richters A. Rosas, der Richterin C. Toader (Berichterstatterin) sowie des Richters E. Jarašiūnas,
Generalanwalt: M. Wathelet,
Kanzler: A. Calot Escobar,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
- der polnischen Regierung, vertreten durch B. Majczyna als Bevollmächtigten,
- der italienischen Regierung, vertreten durch G. Palmieri als Bevollmächtigte im Beistand von P. Pucciariello, avvocato dello Stato,
- der Europäischen Kommission, vertreten durch M. Wilderspin und A. Stobiecka-Kuik als Bevollmächtigte,
nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 26. Mai 2016
folgendes
Urteil
Entscheidungsgründe
Rz. 1
Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 1 Abs. 1 Buchst. a und Art. 3 Abs. 1 Buchst. a fünfter und sechster Gedankenstrich der Verordnung (EG) Nr. 2201/2003 des Rates vom 27. November 2003 über die Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Ehesachen und in Verfahren betreffend die elterliche Verantwortung und zur Aufhebung der Verordnung (EG) Nr. 1347/2000 (ABl. 2003, L 338, S. 1).
Rz. 2
Dieses Ersuchen ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen Edyta Mikołajczyk einerseits sowie dem verstorbenen Stefan Czarnecki, im Ausgangsverfahren vertreten durch einen Kurator, und Marie Louise Czarnecka andererseits betreffend eine Klage auf Ungültigerklärung der zwischen den letzteren beiden geschlossenen Ehe.
Rechtlicher Rahmen
Unionsrecht
Rz. 3
Die Erwägungsgründe 1 und 8 der Verordnung Nr. 2201/2003 lauten wie folgt:
„(1) Die Europäische Gemeinschaft hat sich die Schaffung eines Raums der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts zum Ziel gesetzt, in dem der freie Personenverkehr gewährleistet ist. Hierzu erlässt die Gemeinschaft unter anderem die Maßnahmen, die im Bereich der justiziellen Zusammenarbeit in Zivilsachen für das reibungslose Funktionieren des Binnenmarkts erforderlich sind.
…
(8) Bezüglich Entscheidungen über die Ehescheidung, die Trennung ohne Auflösung des Ehebandes oder die Ungültigerklärung einer Ehe sollte diese Verordnung nur für die Auflösung einer Ehe und nicht für Fragen wie die Scheidungsgründe, das Ehegüterrecht oder sonstige mögliche Nebenaspekte gelten.”
Rz. 4
Art. 1 dieser Verordnung bestimmt:
„(1) Diese Verordnung gilt, ungeachtet der Art der Gerichtsbarkeit, für Zivilsachen mit folgendem Gegenstand:
- die Ehescheidung, die Trennung ohne Auflösung des Ehebandes und die Ungültigerklärung einer Ehe,
…
(3) Diese Verordnung gilt nicht für
- die Feststellung und die Anfechtung des Eltern-Kind-Verhältnisses,
- Adoptionsentscheidungen und Maßnahmen zur Vorbereitung einer Adoption sowie die Ungültigerklärung und den Widerruf der Adoption,
- Namen und Vornamen des Kindes,
- die Volljährigkeitserklärung,
- Unterhaltspflichten,
- Trusts und Erbschaften,
- Maßnahmen infolge von Straftaten, die von Kindern begangen wurden.”
Rz. 5
Art. 3 Abs. 1 dieser Verordnung sieht Folgendes vor:
„Für Entscheidungen über die Ehescheidung, die Trennung ohne Auflösung des Ehebandes oder die Ungültigerklärung einer Ehe, sind die Gerichte des Mitgliedstaats zuständig,
a) in dessen Hoheitsgebiet