Entscheidungsstichwort (Thema)
Vorlage zur Vorabentscheidung. Mehrwertsteuer. Maßnahmen zur Sicherstellung einer genauen Erhebung der Mehrwertsteuer. Pflicht zur Bekämpfung rechtswidriger Handlungen zum Nachteil der finanziellen Interessen der Europäischen Union. Mehrwertsteuerschulden einer steuerpflichtigen juristischen Person. Nationale Regelung, die eine gesamtschuldnerische Haftung des nichtsteuerpflichtigen Vorstands der juristischen Person vorsieht. Vom Vorstand unredlich vorgenommene Verfügungen. Vermögensminderung der juristischen Person, die zur Insolvenz führt. Nichtabführung der von der juristischen Person geschuldeten Mehrwertsteuerbeträge innerhalb der vorgesehenen Fristen. Verzugszinsen. Verhältnismäßigkeit
Normenkette
EGRL 112/2006 Art. 273
Beteiligte
Direktor na Direktsia Obzhalvane i danachno-osiguritelna praktika |
Direktor na Direktsia Obzhalvane i danachno-osiguritelna praktika Veliko Tarnovo pri Tsentralno upravlenie na Natsionalnata agentsia za prihodite |
Verfahrensgang
Administrativen Sad Veliko Tarnovo (Bulgarien) (Beschluss vom 18.11.2020; ABl. EU 2021, Nr. C 88/18) |
Tenor
1. Art. 273 der Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom 28. November 2006 über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem und der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit
sind dahin auszulegen, dass
sie einer nationalen Regelung nicht entgegenstehen, die eine automatische gesamtschuldnerische Haftung für die Mehrwertsteuerschulden einer juristischen Person unter folgenden Umständen vorsieht:
- die gesamtschuldnerisch haftbar gemachte Person ist Geschäftsführer der juristischen Person oder Mitglied eines ihrer Leitungsorgane;
- die gesamtschuldnerisch haftbar gemachte Person hat unredlich Zahlungen aus dem Vermögen der juristischen Person geleistet, die als verdeckte Ausschüttung von Gewinn oder Dividenden eingestuft werden können, oder hat dieses Vermögen unentgeltlich oder zu Preisen übertragen, die erheblich niedriger als die Marktpreise sind;
- die unredlich vorgenommenen Handlungen haben bewirkt, dass die juristische Person nicht in der Lage ist, die von ihr geschuldete Mehrwertsteuer vollständig oder auch nur zum Teil abzuführen;
- die gesamtschuldnerische Haftung ist auf den Betrag beschränkt, um den das Vermögen der juristischen Person aufgrund der unredlich vorgenommenen Handlungen vermindert wurde, und
- diese gesamtschuldnerische Haftung wird nur hilfsweise ausgelöst, wenn es sich als unmöglich erweist, die von der juristischen Person geschuldeten Mehrwertsteuerbeträge beizutreiben.
2. Art. 273 der Richtlinie 2006/112 und der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit
sind dahin auszulegen, dass
sie einer nationalen Regelung nicht entgegenstehen, die eine automatische gesamtschuldnerische Haftung wie die in Nr. 1 des Tenors des vorliegenden Urteils beschriebene vorsieht, die sich auf die Verzugszinsen erstreckt, die von der juristischen Person geschuldet werden, weil die Mehrwertsteuer aufgrund der unredlichen Handlungen der zum Gesamtschuldner bestimmten Person nicht innerhalb der durch die Bestimmungen dieser Richtlinie festgelegten zwingenden Fristen abgeführt wurde.
Tatbestand
In der Rechtssache
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Administrativen sad Veliko Tarnovo (Verwaltungsgericht Veliko Tarnovo, Bulgarien) mit Entscheidung vom 18. November 2020, beim Gerichtshof eingegangen am 4. Januar 2021, in dem Verfahren
MC
gegen
Direktor na Direktsia „Obzhalvane i danachno-osiguritelna praktika” Veliko Tarnovo pri Tsentralno upravlenie na Natsionalnata agentsia za prihodite,
erlässt
DER GERICHTSHOF (Siebte Kammer)
unter Mitwirkung der Präsidentin der Zweiten Kammer A. Prechal (Berichterstatterin) in Wahrnehmung der Aufgaben der Präsidentin der Siebten Kammer sowie der Richter J. Passer und N. Wahl,
Generalanwältin: J. Kokott,
Kanzler: A. Calot Escobar,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
- von MC, der sich selbst vertritt,
- des Direktor na Direktsia „Obzhalvane i danachno-osiguritelna praktika” Veliko Tarnovo pri Tsentralno upravlenie na Natsionalnata agentsia za prihodite, vertreten durch B. Nikolov,
- der spanischen Regierung, vertreten durch M. J. Ruiz Sánchez als Bevollmächtigte,
- der Europäischen Kommission, vertreten durch N. Nikolova und V. Uher als Bevollmächtigte,
nach Anhörung der Schlussanträge der Generalanwältin in der Sitzung vom 2. Juni 2022
folgendes
Urteil
Entscheidungsgründe
Rz. 1
Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 9 des am 26. Juli 1995 in Brüssel unterzeichneten Übereinkommens aufgrund von Artikel K.3 des Vertrags über die Europäische Union über den Schutz der finanziellen Interessen der Europäischen Gemeinschaften (ABl. 1995, C 316, S. 48, im Folgenden: SFI-Übereinkommen), von Art. 273 der Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom 28. November 2006 über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem (ABl. 2006, L 347, S. 1, im Folgenden: Mehrwertsteuerrichtlinie) sowie des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit.
Rz. 2
Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits...