Entscheidungsstichwort (Thema)
Neutralitätsgrundsatz, Verhältnismäßigkeitsgrundsatz, Fehlende Aufzeichnungen über Eingangsleistungen, Schätzung von Ausgangsumsätzen
Leitsatz (amtlich)
Art. 2 Abs. 1 Buchst. a, Art. 9 Abs. 1, Art. 14 Abs. 1 und die Art. 73 und 273 der Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom 28. November 2006 über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem sowie der Grundsatz der Steuerneutralität sind dahin auszulegen, dass sie einer nationalen Regelung wie der im Ausgangsverfahren fraglichen nicht entgegenstehen, nach der die Steuerbehörde bei Nichtvorhandensein von einem Steuerpflichtigen gelieferten Waren in dessen Lager und bei fehlender Verbuchung damit zusammenhängender steuerlich relevanter Dokumente in den Aufzeichnungen dieses Steuerpflichtigen davon ausgehen darf, dass der Steuerpflichtige diese Waren später an Dritte verkauft hat, und die Steuerbemessungsgrundlage für die Verkäufe dieser Waren anhand der ihr vorliegenden tatsächlichen Anhaltspunkte nach nicht in dieser Richtlinie vorgesehenen Regeln bestimmen darf. Das vorlegende Gericht hat jedoch zu prüfen, ob diese nationale Regelung nicht über das hinausgeht, was erforderlich ist, um die genaue Erhebung der Mehrwertsteuer sicherzustellen und Steuerhinterziehungen zu vermeiden.
Normenkette
EGRL 112/2006 Art. 2 Abs. 1, Art. 9 Abs. 1, Art. 14 Abs. 1
Beteiligte
Direktor na Direktsia Obzhalvane i danachno-osiguritelna praktika Veliko Tarnovo pri Tsentralno upravlenie na Natsionalnata agentsia za prihodite |
Verfahrensgang
Administrativen Sad Veliko Tarnovo (Bulgarien) (Beschluss vom 28.10.2015; Abl.EU 2016, Nr. C 27/13) |
Tatbestand
„Vorlage zur Vorabentscheidung ‐ Steuerrecht ‐ Mehrwertsteuer ‐ Richtlinie 2006/112/EG ‐ Art. 2 Abs. 1 Buchst. a ‐ Art. 9 Abs. 1 ‐ Art. 14 Abs. 1 ‐ Art. 73, 80 und 273 ‐ Grundsätze der steuerlichen Neutralität und der Verhältnismäßigkeit ‐ Steuerhinterziehung ‐ Unregelmäßigkeiten in den Aufzeichnungen ‐ Verschleierung von Lieferungen und Einnahmen ‐ Bestimmung der Steuerbemessungsgrundlage“
In der Rechtssache C-576/15
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Administrativen sad Veliko Tarnovo (Verwaltungsgericht Veliko Tarnovo, Bulgarien) mit Entscheidung vom 28. Oktober 2015, beim Gerichtshof eingegangen am 9. November 2015, in dem Verfahren
Маya Маrinova ET
gegen
Direktor na Direktsia „Obzhalvane i danachno-osiguritelna praktika“ Veliko Tarnovo pri Tsentralno upravlenie na Natsionalnata agentsia za prihodite,
erlässt
DER GERICHTSHOF (Siebte Kammer)
unter Mitwirkung der Kammerpräsidentin C. Toader sowie der Richter A. Rosas und E. Jarašiūnas (Berichterstatter),
Generalanwalt: N. Wahl,
Kanzler: A. Calot Escobar,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
‐ des Direktor na Direktsia „Obzhalvane i danachno-osiguritelna praktika“ Veliko Tarnovo pri Tsentralno upravlenie na Natsionalnata agentsia za prihodite, vertreten durch A. Manov als Bevollmächtigten,
‐ der bulgarischen Regierung, vertreten durch D. Drambozova und E. Petranova als Bevollmächtigte,
‐ der Europäischen Kommission, vertreten durch L. Lozano Palacios und S. Petrova als Bevollmächtigte,
aufgrund des nach Anhörung des Generalanwalts ergangenen Beschlusses, ohne Schlussanträge über die Rechtssache zu entscheiden,
folgendes
Urteil
Rz. 1
Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 2 Abs. 1 Buchst. a, von Art. 9 Abs. 1, von Art. 14 Abs. 1 sowie der Art. 73, 80 und 273 der Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom 28. November 2006 über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem (ABl. 2006, L 347, S. 1, im Folgenden: Mehrwertsteuerrichtlinie).
Rz. 2
Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen der Maya Marinova ET (im Folgenden: MM) und dem Direktor na Direktsia „Obzhalvane i danachno-osiguritelna praktika“ Veliko Tarnovo pri Tsentralno upravlenie na Natsionalnata agentsia za prihodite (Direktor der Direktion „Anfechtung und Steuer- und Sozialversicherungspraxis“ von Veliko Tarnovo bei der Zentralverwaltung der Nationalen Agentur für Einnahmen, Bulgarien, im Folgenden: Direktor) über einen Steuerprüfungsbescheid zur Nachforderung von Mehrwertsteuer und Verzugszinsen.
Rechtlicher Rahmen
Unionsrecht
Rz. 3
Der 59. Erwägungsgrund der Mehrwertsteuerrichtlinie lautet:
„Es ist in bestimmten Grenzen und unter bestimmten Bedingungen angebracht, dass die Mitgliedstaaten von dieser Richtlinie abweichende Sondermaßnahmen ergreifen oder weiter anwenden können, um die Steuererhebung zu vereinfachen oder bestimmte Formen der Steuerhinterziehung oder -umgehung zu verhüten.“
Rz. 4
Art. 2 Abs. 1 dieser Richtlinie bestimmt:
„Der Mehrwertsteuer unterliegen folgende Umsätze:
a) Lieferungen von Gegenständen, die ein Steuerpflichtiger als solcher im Gebiet eines Mitgliedstaats gegen Entgelt tätigt;
…“
Rz. 5
Art. 9 Abs. 1 dieser Richtlinie lautet:
„Als ‚Steuerpflichtiger‘ gilt, wer eine wirtschaftliche Tätigkeit unabhängig von ihrem Ort, Zweck und Ergebnis selbstständig ausübt.
Als ‚wirtschaftliche Tätigkeit‘ ...