Entscheidungsstichwort (Thema)
Vorlage zur Vorabentscheidung. Selbständige Handelsvertreter. Kündigung des Handelsvertretervertrags durch den Unternehmer. Ausgleichsleistung an den Vertreter. Ausgleichsabfindung. Untervertretung. Anteilsmäßiger Anspruch des Untervertreters auf die dem Hauptvertreter geschuldete Ausgleichsabfindung im Verhältnis der vom Untervertreter geworbenen Kundschaft
Normenkette
Richtlinie 86/653/EWG Art. 17 Abs. 2 Buchst. a
Beteiligte
Tenor
Art. 17 Abs. 2 Buchst. a der Richtlinie 86/653/EWG des Rates vom 18. Dezember 1986 zur Koordinierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten betreffend die selbständigen Handelsvertreter
ist dahin auszulegen, dass
die Ausgleichsabfindung, die der Unternehmer dem Hauptvertreter in dem Umfang gezahlt hat, in dem der Untervertreter Kundschaft geworben hat, für den Hauptvertreter einen erheblichen Vorteil darstellen kann. Die Zahlung einer Ausgleichsabfindung an den Untervertreter kann jedoch als unbillig im Sinne dieser Bestimmung angesehen werden, wenn dieser seine Tätigkeiten als Handelsvertreter gegenüber denselben Kunden und für dieselben Produkte, aber im Rahmen einer unmittelbaren Beziehung zu dem Hauptunternehmer fortsetzt, und zwar anstelle des Hauptvertreters, der ihn zuvor eingestellt hatte.
Tatbestand
In der Rechtssache
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht von der Cour de cassation (Kassationshof, Belgien) mit Entscheidung vom 10. September 2021, beim Gerichtshof eingegangen am 24. September 2021, in dem Verfahren
NY
gegen
Herios SARL
erlässt
DER GERICHTSHOF (Dritte Kammer)
unter Mitwirkung der Kammerpräsidentin K. Jürimäe (Berichterstatterin) sowie der Richter M. Safjan, N. Piçarra, N. Jääskinen und M. Gavalec,
Generalanwältin: T. Ćapeta,
Kanzler: A. Calot Escobar,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
- von NY, vertreten durch G. Imfeld, Rechtsanwalt und Avocat, sowie J. Oosterbosch, Avocate,
- der Herios SARL, vertreten durch B. Geuzaine und B. Hübinger, Avocats,
- der belgischen Regierung, vertreten durch M. Jacobs, C. Pochet und L. Van den Broeck als Bevollmächtigte,
- der deutschen Regierung, vertreten durch J. Möller, U. Bartl, J. Heitz und M. Hellmann als Bevollmächtigte,
- der Europäischen Kommission, vertreten durch L. Armati, C. Auvret und M. Mataija als Bevollmächtigte,
aufgrund des nach Anhörung der Generalanwältin ergangenen Beschlusses, ohne Schlussanträge über die Rechtssache zu entscheiden,
folgendes
Urteil
Entscheidungsgründe
Rz. 1
Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 17 Abs. 2 Buchst. a der Richtlinie 86/653/EWG des Rates vom 18. Dezember 1986 zur Koordinierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten betreffend die selbständigen Handelsvertreter (ABl. 1986, L 382, S. 17).
Rz. 2
Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen NY und der Herios SARL wegen einer Ausgleichsabfindung, die NY von der Herios SARL aufgrund des Umsatzes fordert, den Herios im Jahr 2016 dank den von NY zu ihren Gunsten geworbenen neuen Kunden erzielt haben soll.
Rechtlicher Rahmen
Unionsrecht
Rz. 3
Art. 1 der Richtlinie 86/653 lautet folgendermaßen:
„(1) Die durch diese Richtlinie vorgeschriebenen Harmonisierungsmaßnahmen gelten für die Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten, die die Rechtsbeziehungen zwischen Handelsvertretern und ihren Unternehmern regeln.
(2) Handelsvertreter im Sinne dieser Richtlinie ist, wer als selbständiger Gewerbetreibender ständig damit betraut ist, für eine andere Person (im folgenden Unternehmer genannt) den Verkauf oder den Ankauf von Waren zu vermitteln oder diese Geschäfte im Namen und für Rechnung des Unternehmers abzuschließen.
…”
Rz. 4
Kapitel IV der Richtlinie trägt die Überschrift „Abschluss und Beendigung des Handelsvertretervertrages”. In diesem Kapitel bestimmt Art. 17:
„(1) Die Mitgliedstaaten treffen die erforderlichen Maßnahmen dafür, dass der Handelsvertreter nach Beendigung des Vertragsverhältnisses Anspruch auf Ausgleich nach Absatz 2 oder Schadensersatz nach Absatz 3 hat.
(2) a) Der Handelsvertreter hat Anspruch auf einen Ausgleich, wenn und soweit
- er für den Unternehmer neue Kunden geworben oder die Geschäftsverbindungen mit vorhandenen Kunden wesentlich erweitert hat und der Unternehmer aus den Geschäften mit diesen Kunden noch erhebliche Vorteile zieht und
- die Zahlung eines solchen Ausgleichs unter Berücksichtigung aller Umstände, insbesondere der dem Handelsvertreter aus Geschäften mit diesen Kunden entgehenden Provisionen, der Billigkeit entspricht. Die Mitgliedstaaten können vorsehen, dass zu diesen Umständen auch die Anwendung oder Nichtanwendung einer Wettbewerbsabrede im Sinne des Artikels 20 gehört.
…”
Rz. 5
Art. 19 der Richtlinie lautet:
„Die Parteien können vor Ablauf des Vertrages keine Vereinbarungen treffen, die von Artikel 17 und 18 zum Nachteil des Handelsvertreters abweichen.”
Belgisches Recht
Rz. 6
Die Bestimmungen über Handelsvertreterverträge wurden durch Art. 3 der Loi du 2 avril 20...