Entscheidungsstichwort (Thema)
Vorlage zur Vorabentscheidung. Unionsbürgerschaft. Von einem Drittstaat an einen Mitgliedstaat gerichtetes Ersuchen um Auslieferung eines Unionsbürgers, der Staatsangehöriger eines anderen Mitgliedstaats ist und im erstgenannten Mitgliedstaat sein Recht auf Freizügigkeit ausgeübt hat. Auslieferungsersuchen, das zum Zweck der Vollstreckung einer Freiheitsstrafe und nicht zum Zweck der Strafverfolgung gestellt wird. Verbot der Auslieferung, das nur auf die eigenen Staatsangehörigen angewandt wird. Beschränkung der Freizügigkeit. Rechtfertigung mit der Verhinderung von Straflosigkeit. Verhältnismäßigkeit
Normenkette
AEUV Art. 18, 21
Beteiligte
Tenor
Die Art. 18 und 21 AEUV sind dahin auszulegen, dass der ersuchte Mitgliedstaat, nach dessen nationalem Recht die Auslieferung eigener Staatsangehöriger an Staaten außerhalb der Union zum Zweck der Vollstreckung einer Strafe verboten und die Möglichkeit vorgesehen ist, eine solche im Ausland verhängte Strafe im Inland zu vollziehen, im Fall des von einem Drittstaat zum Zweck der Vollstreckung einer Freiheitsstrafe und nicht zum Zweck der Strafverfolgung gestellten Ersuchens um Auslieferung eines Unionsbürgers, der von seinem Recht auf Freizügigkeit Gebrauch gemacht hat, sicherstellen muss, dass dieser Unionsbürger, wenn er seinen ständigen Wohnsitz im Inland hat, bei Auslieferungsfragen auf gleiche Weise wie seine eigenen Staatsangehörigen behandelt wird.
Tatbestand
In der Rechtssache
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Korkein oikeus (Oberster Gerichtshof, Finnland) mit Entscheidung vom 12. Mai 2017, beim Gerichtshof eingegangen am 16. Mai 2017, in dem Verfahren über die Auslieferung von
Denis Raugevicius
erlässt
DER GERICHTSHOF (Große Kammer)
unter Mitwirkung des Präsidenten K. Lenaerts, der Vizepräsidentin R. Silva de Lapuerta, der Kammerpräsidenten J.-C. Bonichot, A. Arabadjiev, M. Vilaras, E. Regan, F. Biltgen und C. Lycourgos sowie der Richter M. Ilešič, E. Levits, L. Bay Larsen, C. G. Fernlund (Berichterstatter) und S. Rodin,
Generalanwalt: Y. Bot,
Kanzler: M. Aleksejev, Verwaltungsrat,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 14. Mai 2018,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
- der finnischen Regierung, vertreten durch H. Leppo als Bevollmächtigte,
- der tschechischen Regierung, vertreten durch M. Smolek, J. Vláčil und J. Pavliš als Bevollmächtigte,
- der deutschen Regierung, vertreten durch T. Henze, M. Hellmann und S. Weinkauff als Bevollmächtigte,
- Irlands, vertreten durch M. Browne, J. Quaney und A. Joyce als Bevollmächtigte im Beistand von M. Gray, BL,
- der zyprischen Regierung, vertreten durch E. Zachariadou, E. Neofytou und M. Spiliotopoulou als Bevollmächtigte,
- der litauischen Regierung, vertreten durch D. Kriaučiūnas und V. Čepaite als Bevollmächtigte,
- der ungarischen Regierung, vertreten durch M. Z. Fehér, G. Koós und R. Kissné Berta als Bevollmächtigte,
- der österreichischen Regierung, vertreten durch G. Eberhard als Bevollmächtigten,
- der rumänischen Regierung, vertreten durch C.-R. Canţăr, R. Mangu, E. Gane und C.-M. Florescu als Bevollmächtigte,
- der schwedischen Regierung, vertreten durch A. Falk, H. Shev, C. Meyer-Seitz, L. Zettergren und A. Alriksson als Bevollmächtigte,
- der Europäischen Kommission, vertreten durch S. Grünheid, R. Troosters und M. Huttunen als Bevollmächtigte,
nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 25. Juli 2018
folgendes
Urteil
Entscheidungsgründe
Rz. 1
Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 18 Abs. 1 und Art. 21 AEUV.
Rz. 2
Dieses Ersuchen ergeht im Rahmen eines von den russischen Behörden an die finnischen Behörden gerichteten Auslieferungsersuchens betreffend Herrn Denis Raugevicius, der die litauische und die russische Staatsangehörigkeit besitzt, zum Zwecke der Vollstreckung einer Freiheitsstrafe.
Rechtlicher Rahmen
Das Europäische Auslieferungsübereinkommen
Rz. 3
Art. 1 des Europäischen Auslieferungsübereinkommens vom 13. Dezember 1957 (im Folgenden Europäisches Auslieferungsübereinkommen) bestimmt:
„Die Vertragsparteien verpflichten sich, gemäß den nachstehenden Vorschriften und Bedingungen einander die Personen auszuliefern, die von den Justizbehörden des ersuchenden Staates wegen einer strafbaren Handlung verfolgt oder zur Vollstreckung einer Strafe oder einer Maßregel der Sicherung und Besserung gesucht werden.”
Rz. 4
Art. 6 „Auslieferung eigener Staatsangehöriger”) des Übereinkommens sieht vor:
„(1)
- Jede Vertragspartei ist berechtigt, die Auslieferung ihrer Staatsangehörigen abzulehnen.
- Jede Vertragspartei kann, was sie betrifft, bei der Unterzeichnung oder der Hinterlegung ihrer Ratifikations- oder Beitrittsurkunde durch eine Erklärung den Begriff ‚Staatsangehörige’ im Sinne dieses Übereinkommens bestimmen.
- Für die Beurteilung der Eigenschaft als Staatsangehöriger ist der Zeitpunkt der Entscheidung über die Auslieferung maßgebend. …
(2) Liefert der ersucht...