Entscheidungsstichwort (Thema)
Vorlage zur Vorabentscheidung. Recht auf Familienzusammenführung. Entzug des Aufenthaltstitels eines Familienangehörigen eines Drittstaatsangehörigen. Rechtsstellung der langfristig aufenthaltsberechtigten Drittstaatsangehörigen. Verlust dieser Rechtsstellung. Täuschung. Keine Kenntnis von der Täuschung
Normenkette
Richtlinie 2003/86/EG Art. 16 Abs. 2 Buchst. a, Art. 17; Richtlinie 2003/109/EG Art. 9 Abs. 1 Buchst. a
Beteiligte
Y.Z. u.a. (Fraude dans le regroupement familial) |
Staatssecretaris van Veiligheid en Justitie |
Tenor
1. Art. 16 Abs. 2 Buchst. a der Richtlinie 2003/86/EG des Rates vom 22. September 2003 betreffend das Recht auf Familienzusammenführung ist dahin auszulegen, dass dann, wenn zum Zweck der Ausstellung von Aufenthaltstiteln für die Familienangehörigen eines Drittstaatsangehörigen gefälschte Dokumente vorgelegt wurden, der Umstand, dass diese Familienangehörigen nichts vom betrügerischen Charakter dieser Dokumente wussten, nicht dem entgegensteht, dass der betreffende Mitgliedstaat diese Titel nach dieser Bestimmung entzieht. Gemäß Art. 17 dieser Richtlinie haben die zuständigen nationalen Behörden gleichwohl vorab eine individualisierte Prüfung der Situation dieser Familienangehörigen vorzunehmen und dabei alle zu berücksichtigenden Interessen ausgewogen und sachgerecht zu bewerten.
2. Art. 9 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie 2003/109/EG des Rates vom 25. November 2003 betreffend die Rechtsstellung der langfristig aufenthaltsberechtigten Drittstaatsangehörigen ist dahin auszulegen, dass dann, wenn Drittstaatsangehörigen auf der Grundlage gefälschter Dokumente die Rechtsstellung eines langfristig Aufenthaltsberechtigten zuerkannt wurde, der Umstand, dass sie nichts vom betrügerischen Charakter dieser Dokumente wussten, nicht dem entgegensteht, dass der betreffende Mitgliedstaat die Rechtsstellung eines langfristig Aufenthaltsberechtigten nach dieser Bestimmung entzieht.
Tatbestand
In der Rechtssache
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Raad van State (Staatsrat, Niederlande) mit Entscheidung vom 20. September 2017, beim Gerichtshof eingegangen am 22. September 2017, in dem Verfahren
Staatssecretaris van Veiligheid en Justitie
gegen
Y.Z.,
Z.Z.,
Y.Y.
erlässt
DER GERICHTSHOF (Vierte Kammer)
unter Mitwirkung des Präsidenten der Siebten Kammer T. von Danwitz in Wahrnehmung der Aufgaben des Präsidenten der Vierten Kammer, der Richterin K. Jürimäe sowie der Richter C. Lycourgos (Berichterstatter), E. Juhász und C. Vajda,
Generalanwalt: P. Mengozzi,
Kanzler: M. Ferreira, Hauptverwaltungsrätin,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 5. Juli 2018,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
- von Y.Z., Z.Z. und Y.Y., Prozessbevollmächtigte: M. Strooij und A. C. M. Nederveen, advocaten,
- der niederländischen Regierung, vertreten durch M. Bulterman, M. Gijzen und J. M. Hoogveld als Bevollmächtigte,
- der polnischen Regierung, vertreten durch B. Majczyna als Bevollmächtigten,
- der Europäischen Kommission, vertreten durch R. Troosters und C. Cattabriga als Bevollmächtigte,
nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 4. Oktober 2018
folgendes
Urteil
Entscheidungsgründe
Rz. 1
Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 16 Abs. 2 Buchst. a der Richtlinie 2003/86/EG des Rates vom 22. September 2003 betreffend das Recht auf Familienzusammenführung (ABl. 2003, L 251, S. 12) und von Art. 9 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie 2003/109/EG des Rates vom 25. November 2003 betreffend die Rechtsstellung der langfristig aufenthaltsberechtigten Drittstaatsangehörigen (ABl. 2004, L 16, S. 44).
Rz. 2
Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen dem Staatssecretaris van Veiligheid en Justitie (Staatssekretär für Sicherheit und Justiz, Niederlande) (im Folgenden: Staatssekretär) auf der einen und Y.Z., Z.Z. und Y.Y. auf der anderen Seite über Bescheide des Staatssekretärs, mit denen die Y.Z., Z.Z. und Y.Y. erteilten Aufenthaltstitel entzogen wurden, sie aufgefordert wurden, das Hoheitsgebiet der Niederlande unverzüglich zu verlassen und ihnen ein Rückkehrverbot auferlegt wurde.
Rechtlicher Rahmen
Unionsrecht
Richtlinie 2003/86
Rz. 3
Die Erwägungsgründe 2 und 4 der Richtlinie 2003/86 lauten:
„(2) Maßnahmen zur Familienzusammenführung sollten in Übereinstimmung mit der Verpflichtung zum Schutz der Familie und zur Achtung des Familienlebens getroffen werden, die in zahlreichen Instrumenten des Völkerrechts verankert ist. Diese Richtlinie steht im Einklang mit den Grundrechten und berücksichtigt die Grundsätze, die insbesondere in Artikel 8 der Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten und der Charta der Grundrechte der Europäischen Union anerkannt wurden.
…
(4) Die Familienzusammenführung ist eine notwendige Voraussetzung dafür, dass ein Familienleben möglich ist. Sie trägt zur Schaffung soziokultureller Stabilität bei, die die Integration Drittstaatsangehöriger in dem Mi...