Entscheidungsstichwort (Thema)
Vorlage zur Vorabentscheidung. Justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen. Recht auf Zugang zu einem Rechtsbeistand in Strafverfahren. Vorübergehende Abweichung von dem Recht auf Zugang zu einem Rechtsbeistand unter außergewöhnlichen Umständen. Verzicht auf die Anwesenheit oder Unterstützung eines Rechtsbeistands. Voraussetzungen. Wahrung der Verteidigungsrechte und der Fairness des Verfahrens. Zulässigkeit von Beweismitteln. Schriftlicher Verzicht eines analphabetischen Verdächtigen auf sein Recht auf Zugang zu einem Rechtsbeistand. Unterbliebene Belehrung über die möglichen Folgen des Verzichts auf dieses Recht. Auswirkungen auf weitere Ermittlungsmaßnahmen. Entscheidung über eine angemessene Maßnahme zur Sicherung. Beurteilung von Beweisen, die unter Missachtung des Rechts auf Zugang zu einem Rechtsbeistand erlangt wurden
Normenkette
Richtlinie 2013/48/EU; Richtlinie 2013/48/EU Art. 3 Abs. 6 Buchst. b, Art. 9, 12 Abs. 2; Charta der Grundrechte der Europäischen Union Art. 47
Beteiligte
Tenor
1.Art. 3 Abs. 6 Buchst. b der Richtlinie 2013/48/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 22. Oktober 2013 über das Recht auf Zugang zu einem Rechtsbeistand in Strafverfahren und in Verfahren zur Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls sowie über das Recht auf Benachrichtigung eines Dritten bei Freiheitsentzug und das Recht auf Kommunikation mit Dritten und mit Konsularbehörden während des Freiheitsentzugs
ist dahin auszulegen, dass
sich die Polizeibehörden des betreffenden Mitgliedstaats auf diese Bestimmung, wenn sie nicht in sein nationales Recht umgesetzt wurde, gegenüber einem Verdächtigen oder einer beschuldigten Person nicht berufen können, um von der Anwendung des in dieser Richtlinie klar, genau und unbedingt vorgesehenen Rechts auf Zugang zu einem Rechtsbeistand abzuweichen.
2.Art. 9 Abs. 1 und 2 der Richtlinie 2013/48
ist dahin auszulegen, dass
der von einem analphabetischen Verdächtigen erklärte Verzicht auf das Recht auf Zugang zu einem Rechtsbeistand sich nicht mit den Anforderungen nach Art. 9 Abs. 1 vereinbaren lässt, wenn dieser Verdächtige nicht in einer Art und Weise, die seine besonderen Umstände angemessen berücksichtigt, über die möglichen Folgen eines solchen Verzichts belehrt wurde und wenn der Verzicht nicht gemäß dem nationalen Verfahrensrecht in einer Art und Weise schriftlich festgehalten wurde, die es ermöglicht, die Einhaltung dieser Anforderungen zu prüfen.
3.Art. 9 Abs. 3 der Richtlinie 2013/48
ist dahin auszulegen, dass
eine schutzbedürftige Person im Sinne von Art. 13 dieser Richtlinie, die auf das Recht auf Zugang zu einem Rechtsbeistand verzichtet, vor jeder weiteren Ermittlungsmaßnahme, in deren Verlauf die Abwesenheit eines Verteidigers angesichts der Intensität und Bedeutung der jeweiligen Ermittlungsmaßnahme die Interessen und Rechte dieser Person in besonderem Maß beeinträchtigen kann, über die Möglichkeit, diesen Verzicht zu widerrufen, belehrt werden muss.
4.Art. 12 Abs. 2 der Richtlinie 2013/48 in Verbindung mit Art. 47 Abs. 1 und 2 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union
ist dahin auszulegen, dass
er einer nationalen Rechtsprechung entgegensteht, wonach einem Gericht, das die Beteiligung eines Beschuldigten an einer Straftat prüft, um über die Angemessenheit der gegen diesen Beschuldigten zu verhängenden Maßnahme zur Sicherung zu befinden, bei der Entscheidung über die Aufrechterhaltung der Haft dieses Beschuldigten die Möglichkeit genommen wird, zu beurteilen, ob Beweismittel unter Missachtung der Vorgaben dieser Richtlinie erlangt wurden, und solche Beweismittel gegebenenfalls auszuschließen.
Tatbestand
In der Rechtssache C-15/24 PPU [Stachev](
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Sofiyski rayonen sad (Rayongericht Sofia, Bulgarien) mit Entscheidung vom 11. Januar 2024, beim Gerichtshof eingegangen am 11. Januar 2024, in dem Strafverfahren gegen
CH,
Beteiligte:
Sofyiska rayonna prokuratura,
erlässt
DER GERICHTSHOF (Erste Kammer)
unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten A. Arabadjiev, der Richter T. von Danwitz, P. G. Xuereb und A. Kumin (Berichterstatter) sowie der Richterin I. Ziemele,
Generalanwalt: A. M. Collins,
Kanzler: R. Stefanova-Kamisheva, Verwaltungsrätin,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 11. März 2024,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
- – von CH, vertreten durch I. R. Stoyanov, Advokat,
- – der Europäischen Kommission, vertreten durch J. Vondung und I. Zaloguin als Bevollmächtigte,
nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 11. April 2024
folgendes
Urteil
Entscheidungsgründe
Rz. 1
Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 3 Abs. 6 Buchst. b, Art. 9 Abs. 1 Buchst. a und b und Art. 12 Abs. 2 der Richtlinie 2013/48/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 22. Oktober 2013 über das Recht auf Zugang zu einem Rechtsbeistand in Strafverfahren und in Verfahren zur Vollstreckung des E...