Entscheidungsstichwort (Thema)
Vorlage zur Vorabentscheidung. Freier Dienstleistungsverkehr. Glücksspiel. Zugänglichmachen von verbotenen Ausspielungen. Sanktionen. Verhältnismäßigkeit. Mindestgeldstrafen. Kumulation. Fehlende Höchstgrenze. Ersatzfreiheitsstrafe. Proportionaler Beitrag zu den Kosten des Verfahrens
Normenkette
AEUV Art. 56; Charta der Grundrechte der Europäischen Union Art. 49 Abs. 3
Beteiligte
Landespolizeidirektion Steiermark u.a |
Landespolizeidirektion Steiermark |
Tenor
1. Art. 56 AEUV ist dahin auszulegen, dass das nationale Gericht, das mit der Prüfung der Rechtmäßigkeit einer wegen Verstoßes gegen das Glücksspielmonopol verhängten Sanktion befasst ist, in einem Verfahren über die Verhängung von Sanktionen wegen eines solchen Verstoßes speziell prüfen muss, ob die in der anwendbaren Regelung vorgesehenen Sanktionen unter Berücksichtigung der konkreten Methoden für deren Bestimmung mit Art. 56 AEUV vereinbar sind.
2. Art. 56 AEUV ist dahin auszulegen, dass er einer nationalen Regelung nicht entgegensteht, die im Fall der unternehmerischen Zugänglichmachung verbotener Ausspielungen Folgendes zwingend vorsieht:
- die Festsetzung einer Mindestgeldstrafe für jeden nicht bewilligten Glücksspielautomaten ohne Höchstgrenze der Gesamtsumme der verhängten Geldstrafen, sofern der Gesamtbetrag der verhängten Geldstrafen nicht außer Verhältnis zu dem durch die geahndeten Taten erzielbaren wirtschaftlichen Vorteil steht;
- die Verhängung einer Ersatzfreiheitsstrafe für jeden nicht bewilligten Glücksspielautomaten ohne Höchstgrenze der Gesamtdauer der verhängten Ersatzfreiheitsstrafen, sofern die Dauer der tatsächlich verhängten Ersatzfreiheitsstrafe im Hinblick auf die Schwere der festgestellten Taten nicht übermäßig lang ist, und
- einen Beitrag zu den Kosten des Verfahrens in Höhe von 10 % der verhängten Geldstrafen, sofern dieser Beitrag im Hinblick auf die tatsächlichen Kosten eines solchen Verfahrens weder überhöht ist noch das in Art. 47 der Charta verankerte Recht auf Zugang zu den Gerichten verletzt.
Tatbestand
In der Rechtssache
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Verwaltungsgerichtshof (Österreich) mit Entscheidung vom 27. April 2020, beim Gerichtshof eingegangen am 3. Juni 2020, in dem Verfahren
MT
gegen
Landespolizeidirektion Steiermark
erlässt
DER GERICHTSHOF (Zweite Kammer)
unter Mitwirkung des Präsidenten der Ersten Kammer A. Arabadjiev in Wahrnehmung der Aufgaben des Präsidenten der Zweiten Kammer, der Richterin I. Ziemele (Berichterstatterin) sowie der Richter T. von Danwitz, P. G. Xuereb und A. Kumin,
Generalanwalt: M. Szpunar,
Kanzler: A. Calot Escobar,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
- von MT, vertreten durch die Rechtsanwälte P. Ruth und D. Pinzger,
- der österreichischen Regierung, vertreten durch A. Posch und J. Schmoll als Bevollmächtigte,
- der belgischen Regierung, vertreten durch L. Van den Broeck und M. Jacobs als Bevollmächtigte im Beistand von P. Vlaemminck, advocaat, und M. Thibault, avocate,
- der ungarischen Regierung, vertreten durch B. R. Kissné, M. Z. Fehér und G. Koós als Bevollmächtigte,
- der portugiesischen Regierung, vertreten durch P. Barros da Costa, A. Silva Coelho und L. Inez Fernandes als Bevollmächtigte,
- der Europäischen Kommission, vertreten durch G. Braun, L. Malferrari und L. Armati als Bevollmächtigte,
aufgrund des nach Anhörung des Generalanwalts ergangenen Beschlusses, ohne Schlussanträge über die Rechtssache zu entscheiden,
folgendes
Urteil
Entscheidungsgründe
Rz. 1
Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 56 AEUV und Art. 49 Abs. 3 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta).
Rz. 2
Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen MT und der Landespolizeidirektion Steiermark (Österreich) über Sanktionen, die gegen MT wegen unternehmerischer Zugänglichmachung verbotener Ausspielungen verhängt wurden.
Rechtlicher Rahmen
GSpG
Rz. 3
Das Glücksspielgesetz (Bundesgesetz zur Regelung des Glücksspielwesens) vom 28. November 1989 (BGBl. Nr. 620/1989) in seiner auf den Ausgangsrechtsstreit anwendbaren Fassung (im Folgenden: GSpG) bestimmt in seinem § 2 („Ausspielungen”):
„(1) Ausspielungen sind Glücksspiele,
- die ein Unternehmer veranstaltet, organisiert, anbietet oder zugänglich macht und
- bei denen Spieler oder andere eine vermögenswerte Leistung in Zusammenhang mit der Teilnahme am Glücksspiel erbringen (Einsatz) und
- bei denen vom Unternehmer, von Spielern oder von anderen eine vermögenswerte Leistung in Aussicht gestellt wird (Gewinn).
…
(4) Verbotene Ausspielungen sind Ausspielungen, für die eine Konzession oder Bewilligung nach diesem Bundesgesetz nicht erteilt wurde und die nicht vom Glücksspielmonopol des Bundes gemäß § 4 ausgenommen sind.
…”
Rz. 4
§ 52 GSpG („Verwaltungsstrafbestimmungen”) bestimmt:
„(1) Es begeht eine Verwaltungsübertretung und ist von der Behörde in den Fällen der Z 1 mit einer Geldstrafe von bis zu 60 000 Euro und in den Fällen der Z 2 b...