Entscheidungsstichwort (Thema)

Ersuchen um Vorabentscheidung: Tribunal du travail de Tournai. Belgien. Niederlassungsfreiheit. Soziale Sicherheit Selbständiger, die in zwei Mitgliedstaaten erwerbstätig sind. Freizuegigkeit. Mehrere Stätten für die Ausübung einer Tätigkeit im Gebiet der Gemeinschaft. Nationale Regelung, nach der ein Selbständiger, auch wenn er als solcher einem System der sozialen Sicherheit in dem Mitgliedstaat seines Wohnsitzes angeschlossen ist, Sozialversicherungsbeiträge entrichten muß, die für ihn nicht zu einem zusätzlichen sozialen Schutz führen. Unzulässigkeit

 

Leitsatz (amtlich)

Artikel 52 des Vertrages soll, da sich die Niederlassungsfreiheit nicht auf das Recht beschränkt, nur eine Niederlassung innerhalb der Gemeinschaft zu gründen, sondern auch die Möglichkeit umfasst, unter Beachtung der jeweiligen Berufsregelungen im Gebiet der Gemeinschaft mehr als eine Stätte für die Ausübung einer Tätigkeit einzurichten und beizubehalten, die Ausübung von Erwerbstätigkeiten im gesamten Gebiet der Gemeinschaft erleichtern und steht somit einer nationalen Regelung entgegen, die die Ausdehnung dieser Tätigkeiten über das Hoheitsgebiet eines einzigen Mitgliedstaats hinaus behindern kann. Er verwehrt es deshalb einem Mitgliedstaat, Personen, die bereits eine selbständige Tätigkeit in einem anderen Mitgliedstaat ausüben, dort wohnen und einem System der sozialen Sicherheit angeschlossen sind, zur Entrichtung von Beiträgen zur Sozialversicherung für Selbständige zu verpflichten, wenn diese Verpflichtung nicht gerechtfertigt ist, weil sie zu keinem zusätzlichen Schutz für die Betroffenen führt.

 

Normenkette

EWGVtr Art. 52

 

Beteiligte

Inasti (Institut national d'assurances sociales pour travailleurs indépendants)

Hans Kemmler

 

Tenor

Artikel 52 EG-Vertrag verwehrt es einem Mitgliedstaat, Personen, die bereits eine selbständige Tätigkeit in einem anderen Mitgliedstaat ausüben, dort wohnen und einem System der sozialen Sicherheit angeschlossen sind, zur Entrichtung von Beiträgen zur Sozialversicherung für Selbständige zu verpflichten, obwohl diese Beitragspflicht für sie nicht zu einem zusätzlichen sozialen Schutz führt.

 

Gründe

1 Das Tribunal du travail Tournai hat mit Urteil vom 14. Februar 1995, beim Gerichtshof eingegangen am 1. März 1995, eine Frage nach der Auslegung der Artikel 48, 51, 52 und 59 EG-Vertrag zur Vorabentscheidung vorgelegt.

2 Diese Frage stellt sich in einem Rechtsstreit zwischen dem Institut national d' assurances sociales pour travailleurs indépendants (nachstehend: Inasti) und Herrn Kemmler (nachstehend: Beklagter) wegen der Zahlung von Beiträgen zum belgischen Sozialversicherungssystem für Selbständige.

3 Der Beklagte besitzt die deutsche Staatsangehörigkeit und übte eine selbständige Tätigkeit als Rechtsanwalt in Frankfurt und Brüssel aus. Er hatte seinen Wohnsitz stets in Deutschland, wo er dem System der sozialen Sicherheit für Selbständige unterlag, wohnte während eines Teils des streitigen Zeitraums aber auch in Flobecq (Gerichtsbezirk Tournai).

4 Nach Ansicht des Inasti unterlag der Beklagte bis zum 30. Juni 1982, dem Zeitpunkt des Inkrafttretens der Verordnung (EWG) Nr. 1390/81 des Rates vom 12. Mai 1981 zur Ausdehnung der Verordnung Nr. 1408/71 des Rates auf die Selbständigen und ihre Familienangehörigen (ABl. L 143, S. 1) der belgischen Sozialversicherung. Da nämlich zwischen dem Königreich Belgien und der Bundesrepublik Deutschland kein bilaterales Sozialversicherungsabkommen bestanden habe, sei der Beklagte aufgrund seiner beruflichen Tätigkeit in Belgien beitragspflichtig im Sinne von Artikel 3 Absatz 1 der Königlichen Verordnung Nr. 38 vom 27. Juli 1967 über die sozialrechtliche Stellung der Selbständigen (Moniteur belge vom 29. Juli 1967) gewesen.

5 Das Inasti verlangte daher vom Beklagten Zahlung von Beiträgen für das Jahr 1981 und die ersten beiden Quartale 1982. Der Beklagte lehnte die Zahlung dieser Beiträge jedoch u. a. mit der Begründung ab, er sei der deutschen Sozialversicherung für Selbständige angeschlossen gewesen und ein Anschluß an die belgische Sozialversicherung hätte ihm keinen zusätzlichen sozialen Schutz geboten.

6 Das Tribunal du travail Tournai, bei dem der Rechtsstreit anhängig ist, ist der Ansicht, daß die Entscheidung von der Auslegung verschiedener Bestimmungen des Vertrages abhängt. Es hat daher dem Gerichtshof folgende Frage zur Vorabentscheidung vorgelegt:

Sind die Artikel 48, 51, 52 und 59 EG-Vertrag dahin auszulegen, daß ein Mitgliedstaat (im vorliegenden Fall Belgien) vor dem 1. Juli 1982 Staatsangehörige eines anderen Mitgliedstaats (im vorliegenden Fall die frühere Bundesrepublik Deutschland), die die gleiche selbständige Berufstätigkeit in seinem Gebiet und in der früheren Bundesrepublik Deutschland, wo sie wohnhaft waren und dem System der sozialen Sicherheit unterlagen, ausübten, nicht einer Beitragspflicht im belgischen System der sozialen Sicherheit für Selbständige unterwerfen durfte, zumal diese Beitragspflicht für sie nicht zu einem zus...

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