Entscheidungsstichwort (Thema)
Gerichtliche Zuständigkeit und Vollstreckung von Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen. Öffentliche Zustellung gerichtlicher Schriftstücke. Fehlen eines bekannten Wohnsitzes oder Aufenthaltsorts des Beklagten im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats. Zuständigkeit für Klagen aus ‚unerlaubter Handlung oder einer Handlung, die einer unerlaubten Handlung gleichgestellt ist’. Verletzung der Persönlichkeitsrechte, die möglicherweise durch die Veröffentlichung von Lichtbildern im Internet begangen wurde. Ort, an dem das schädigende Ereignis eingetreten ist oder einzutreten droht
Beteiligte
Tenor
1. Art. 4 Abs. 1 der Verordnung (EG) Nr. 44/2001 des Rates vom 22. Dezember 2000 über die gerichtliche Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen ist unter Umständen wie denen des Ausgangsverfahrens dahin auszulegen, dass er der Anwendung von Art. 5 Nr. 3 dieser Verordnung auf eine Haftungsklage wegen des Betriebs einer Website gegen einen Beklagten, der mutmaßlich Unionsbürger ist, dessen Aufenthaltsort jedoch unbekannt ist, nicht entgegensteht, wenn das angerufene Gericht nicht über beweiskräftige Indizien verfügt, die den Schluss zulassen, dass dieser Beklagte seinen Wohnsitz tatsächlich außerhalb des Gebiets der Europäischen Union hat.
2. Das Unionsrecht ist dahin auszulegen, dass es dem Erlass eines Versäumnisurteils gegen einen Beklagten nicht entgegensteht, dem mangels Ermittelbarkeit seines Aufenthalts die Klage nach nationalem Recht öffentlich zugestellt wurde, sofern sich das angerufene Gericht vorher vergewissert hat, dass alle Nachforschungen, die der Sorgfaltsgrundsatz und der Grundsatz von Treu und Glauben gebieten, vorgenommen worden sind, um den Beklagten ausfindig zu machen.
3. Das Unionsrecht ist dahin auszulegen, dass es der Bestätigung eines Versäumnisurteils gegen einen Beklagten, dessen Anschrift unbekannt ist, als Europäischer Vollstreckungstitel im Sinne der Verordnung (EG) Nr. 805/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 21. April 2004 zur Einführung eines europäischen Vollstreckungstitels für unbestrittene Forderungen entgegensteht.
4. Art. 3 Abs. 1 und 2 der Richtlinie 2000/31/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 8. Juni 2000 über bestimmte rechtliche Aspekte der Dienste der Informationsgesellschaft, insbesondere des elektronischen Geschäftsverkehrs, im Binnenmarkt („Richtlinie über den elektronischen Geschäftsverkehr”) findet in einem Fall keine Anwendung, in dem der Ort der Niederlassung des Anbieters von Diensten der Informationsgesellschaft unbekannt ist, da diese Bestimmung nur dann anwendbar ist, wenn der Mitgliedstaat, in dessen Gebiet der betreffende Anbieter tatsächlich niedergelassen ist, feststeht.
Tatbestand
In der Rechtssache
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Landgericht Regensburg (Deutschland) mit Entscheidung vom 17. Mai 2010, beim Gerichtshof eingegangen am 11. Juni 2010, in dem Verfahren
G
gegen
Cornelius de Visser
erlässt
DER GERICHTSHOF (Erste Kammer)
unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten A. Tizzano, der Richter M. Safjan (Berichterstatter), A. Borg Barthet und J.-J. Kasel sowie der Richterin M. Berger,
Generalanwalt: P. Cruz Villalón,
Kanzler: B. Fülöp, Verwaltungsrat,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 25. Mai 2011,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
- der dänischen Regierung, vertreten durch C. Vang als Bevollmächtigten,
- Irlands, vertreten durch D. O'Hagan als Bevollmächtigten im Beistand von A. Collins, SC, und M. Noonan, BL,
- der italienischen Regierung, vertreten durch G. Palmieri als Bevollmächtigte im Beistand von S. Varone, avvocato dello Stato,
- der luxemburgischen Regierung, vertreten durch C. Schiltz als Bevollmächtigten,
- der ungarischen Regierung, vertreten durch M. Z. Fehér, K. Szíjjártó und K. Molnár als Bevollmächtigte,
- der niederländischen Regierung, vertreten durch C. Wissels als Bevollmächtigte,
- der Europäischen Kommission, vertreten durch M. Wilderspin und S. Grünheid als Bevollmächtigte,
aufgrund des nach Anhörung des Generalanwalts ergangenen Beschlusses, ohne Schlussanträge über die Rechtssache zu entscheiden,
folgendes
Urteil
Entscheidungsgründe
Rz. 1
Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 6 EUV in Verbindung mit Art. 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Grundrechtecharta), von Art. 3 Abs. 1 und 2 der Richtlinie 2000/31/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 8. Juni 2000 über bestimmte rechtliche Aspekte der Dienste der Informationsgesellschaft, insbesondere des elektronischen Geschäftsverkehrs, im Binnenmarkt („Richtlinie über den elektronischen Geschäftsverkehr”) (ABl. L 178, S. 1), der Art. 4 Abs. 1, 5 Nr. 3 und 26 Abs. 2 der Verordnung (EG) Nr. 44/2001 des Rates vom 22. Dezember 2000 über die gerichtliche Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Zivil- und H...