Entscheidungsstichwort (Thema)
Vorlage zur Vorabentscheidung. Justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen. Für die Zwecke eines Gesamturteils erfolgende Berücksichtigung einer in einem anderen Mitgliedstaat ergangenen Verurteilung, die in dem Mitgliedstaat zu vollstrecken ist, in dem dieses Urteil ergeht. Voraussetzungen. Begriff ‚Abänderung eines Urteils oder seiner Vollstreckung’, die in einem neuen Strafverfahren in einem anderen Mitgliedstaat als dem Staat, in dem dieses Urteil ergangen ist, zu berücksichtigen ist
Normenkette
Rahmenbeschluss 2008/909/JI Art. 8 Abs. 2-4, Art. 17 Abs. 1-2, Art. 19; Rahmenbeschluss 2008/675/JI Art. 3 Abs. 3
Beteiligte
Tenor
1. Art. 8 Abs. 2 bis 4 in Verbindung mit Art. 17 Abs. 1 und 2 sowie Art. 19 des Rahmenbeschlusses 2008/909/JI des Rates vom 27. November 2008 über die Anwendung des Grundsatzes der gegenseitigen Anerkennung auf Urteile in Strafsachen, durch die eine freiheitsentziehende Strafe oder Maßnahme verhängt wird, für die Zwecke ihrer Vollstreckung in der Europäischen Union in der durch den Rahmenbeschluss 2009/299/JI des Rates vom 26. Februar 2009 geänderten Fassung ist dahin auszulegen, dass der Erlass eines Gesamturteils gestattet ist, das sich nicht nur auf eine oder mehrere Sanktionen erstreckt, die zuvor in dem Mitgliedstaat, in dem dieses Gesamturteil ergeht, gegen den Betroffenen verhängt wurden, sondern auch auf eine oder mehrere Sanktionen, die in einem anderen Mitgliedstaat gegen ihn verhängt wurden und die nach diesem Rahmenbeschluss im ersten Mitgliedstaat vollstreckt werden. Ein solches Gesamturteil darf jedoch nicht zu einer Anpassung der Dauer oder der Art dieser Sanktionen führen, die über die in Art. 8 Abs. 2 bis 4 dieses Rahmenbeschlusses festgelegten engen Grenzen hinausgeht, zu einem Verstoß gegen die in seinem Art. 17 Abs. 2 auferlegte Verpflichtung, die volle Dauer des Freiheitsentzugs, der von der verurteilten Person gegebenenfalls bereits im Ausstellungsstaat verbüßt wurde, auf die Gesamtdauer des im Vollstreckungsstaat zu verbüßenden Freiheitsentzugs anzurechnen, oder zu einer Überprüfung der in einem anderen Mitgliedstaat gegen sie verhängten Sanktionen unter Verstoß gegen Art. 19 Abs. 2 des Rahmenbeschlusses.
2. Art. 3 Abs. 3 des Rahmenbeschlusses 2008/675/JI des Rates vom 24. Juli 2008 zur Berücksichtigung der in anderen Mitgliedstaaten der Europäischen Union ergangenen Verurteilungen in einem neuen Strafverfahren ist im Licht seines 14. Erwägungsgrundes dahin auszulegen, dass er den Erlass eines Gesamturteils gestattet, das sich nicht nur auf eine oder mehrere Verurteilungen des Betroffenen erstreckt, die zuvor in dem Mitgliedstaat ausgesprochen wurden, in dem dieses Gesamturteil ergeht, sondern auch auf eine oder mehrere Verurteilungen, die in einem anderen Mitgliedstaat gegen ihn ergangen sind und die nach dem Rahmenbeschluss 2008/909 in der durch den Rahmenbeschluss 2009/299 geänderten Fassung im ersten Mitgliedstaat vollstreckt werden, sofern dieses Gesamturteil in Bezug auf diese letzteren Verurteilungen die Bedingungen und Grenzen einhält, die sich aus Art. 8 Abs. 2 bis 4, Art. 17 Abs. 2 und Art. 19 Abs. 2 dieses Rahmenbeschlusses ergeben.
Tatbestand
In der Rechtssache
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Sąd Okręgowy w Gdańsku (Bezirksgericht Danzig, Polen) mit Entscheidung vom 15. Februar 2019, beim Gerichtshof eingegangen am 11. März 2019, in dem Verfahren
AV,
Beteiligte:
Pomorski Wydział Zamiejscowy Departamentu do Spraw Przestępczości Zorganizowanej i Korupcji Prokuratury Krajowej,
erlässt
DER GERICHTSHOF (Vierte Kammer)
unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten M. Vilaras, der Richter N. Piçarra (Berichterstatter), D. Šváby und S. Rodin sowie der Richterin K. Jürimäe,
Generalanwalt: J. Richard de la Tour,
Kanzler: A. Calot Escobar,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
- der polnischen Regierung, vertreten durch B. Majczyna als Bevollmächtigten,
- der tschechischen Regierung, vertreten durch M. Smolek, J. Vláčil und T. Machovičová als Bevollmächtigte,
- der spanischen Regierung, zunächst vertreten durch A. Rubio González, dann durch L. Aguilera Ruiz als Bevollmächtigte,
- der ungarischen Regierung, vertreten durch M. Z. Fehér und Z. Wagner als Bevollmächtigte,
- der Europäischen Kommission, vertreten durch S. Grünheid und L. Baumgart als Bevollmächtigte,
nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 8. Oktober 2020
folgendes
Urteil
Entscheidungsgründe
Rz. 1
Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 3 Abs. 3 des Rahmenbeschlusses 2008/675/JI des Rates vom 24. Juli 2008 zur Berücksichtigung der in anderen Mitgliedstaaten der Europäischen Union ergangenen Verurteilungen in einem neuen Strafverfahren (ABl. 2008, L 220, S. 32) sowie Art. 8 Abs. 2 bis 4, Art. 17 Abs. 1 Satz 1 und Art. 19 des Rahmenbeschlusses 2008/909/JI des Rates vom 27. November 2008 über die Anwendung des Grundsatzes der gegenseitigen Anerkennung auf Urteile ...