Entscheidungsstichwort (Thema)
Arbeitsuchende. Unionsbürgerschaft. Diskriminierungsverbot. Artikel 39 EG. Überbrückungsgeld für junge Menschen, die eine erste Beschäftigung suchen. Gewährung abhängig vom Abschluss der höheren Schulbildung im betreffenden Mitgliedstaat
Beteiligte
Office national de l'emploi |
Tenor
Artikel 39 EG verwehrt es einem Mitgliedstaat, einem Staatsangehörigen eines anderen Mitgliedstaats, der eine erste Beschäftigung sucht und der nicht als Kind unterhaltsberechtigt gegenüber einem im ersten Mitgliedstaat wohnenden Wanderarbeitnehmer ist, Überbrückungsgeld nur mit der Begründung zu versagen, dass der Betroffene seine höhere Schulbildung in einem anderen Mitgliedstaat abgeschlossen hat.
Tatbestand
In der Rechtssache
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Artikel 234 EG, eingereicht von der Cour du travail Lüttich (Belgien) mit Entscheidung vom 7. Juni 2004, beim Gerichtshof eingegangen am 17. Juni 2004, in dem Verfahren
Office national de l'emploi
gegen
Ioannis Ioannidis
erlässt
DER GERICHTSHOF (Erste Kammer)
unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten P. Jann, der Richterin N. Colneric sowie der Richter J. N. Cunha Rodrigues (Berichterstatter), M. Ilešič und E. Levits,
Generalanwalt: D. Ruiz-Jarabo Colomer,
Kanzler: R. Grass,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
- des Office national de l'emploi, vertreten durch Y. Denoiseux und G. Lewalle, avocats,
- der belgischen Regierung, vertreten durch Y. Denoiseux und G. Lewalle, avocats,
- der griechischen Regierung, vertreten durch S. Bodina, Z. Chatzipavlou und M. Apessos als Bevollmächtigte,
- der Kommission der Europäischen Gemeinschaften, vertreten durch M. Condou und D. Martin als Bevollmächtigte,
nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 9. Juni 2005
folgendes
Urteil
Entscheidungsgründe
1 Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung der Artikel 12 EG, 17 EG und 18 EG.
2 Dieses Ersuchen ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits des Herrn Ioannidis (im Folgenden: Kläger) gegen das Office national de l'emploi (im Folgenden: ONEM) wegen der Entscheidung, mit der dieses dem Betroffenen das nach den belgischen Rechtsvorschriften vorgesehene Überbrückungsgeld versagt hat.
Rechtlicher Rahmen
Gemeinschaftsrecht
3 Artikel 12 Absatz 1 EG lautet:
„Unbeschadet besonderer Bestimmungen dieses Vertrags ist in seinem Anwendungsbereich jede Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit verboten.”
4 Artikel 17 EG bestimmt:
„(1) Es wird eine Unionsbürgerschaft eingeführt. Unionsbürger ist, wer die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats besitzt …
(2) Die Unionsbürger haben die in diesem Vertrag vorgesehenen Rechte und Pflichten.”
5 Nach Artikel 18 Absatz 1 EG hat jeder Unionsbürger das Recht, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten vorbehaltlich der in diesem Vertrag und in den Durchführungsvorschriften vorgesehenen Beschränkungen und Bedingungen frei zu bewegen und aufzuhalten.
6 Nach Artikel 39 Absatz 2 EG umfasst die Freizügigkeit der Arbeitnehmer die Abschaffung jeder auf der Staatsangehörigkeit beruhenden unterschiedlichen Behandlung der Arbeitnehmer der Mitgliedstaaten in Bezug auf Beschäftigung, Entlohnung und sonstige Arbeitsbedingungen.
7 Gemäß Artikel 39 Absatz 3 EG gibt die Freizügigkeit der Arbeitnehmer diesen
„- vorbehaltlich der aus Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit und Gesundheit gerechtfertigten Beschränkungen – … das Recht,
a) sich um tatsächlich angebotene Stellen zu bewerben;
…”.
8 Nach Artikel 7 Absatz 2 der Verordnung (EWG) Nr. 1612/68 des Rates vom 15. Oktober 1968 über die Freizügigkeit der Arbeitnehmer innerhalb der Gemeinschaft (ABl. L 257, S. 2) in der durch die Verordnung (EWG) Nr. 2434/92 des Rates vom 27. Juli 1992 (ABl. L 245, S. 1) geänderten Fassung (im Folgenden: Verordnung Nr. 1612/68) genießt ein Arbeitnehmer, der Staatsangehöriger eines Mitgliedstaats ist, im Hoheitsgebiet der anderen Mitgliedstaaten die gleichen sozialen und steuerlichen Vergünstigungen wie die inländischen Arbeitnehmer.
Nationales Recht
9 Die belgische Regelung sieht für junge Menschen, die ihr Studium bzw. ihre Schulbildung abgeschlossen haben und auf der Suche nach einer ersten Beschäftigung sind, eine als „Überbrückungsgeld” bezeichnete Arbeitslosenunterstützung vor.
10 Artikel 36 Absatz 1 Unterabsatz 1 der Königlichen Verordnung vom 25. November 1991 zur Regelung der Arbeitslosigkeit (Moniteur belge vom 31. Dezember 1991, S. 29888) in der durch die Königliche Verordnung vom 13. Dezember 1996 (Moniteur belge vom 31. Dezember 1996, S. 32265) geänderten Fassung (im Folgenden: Königliche Verordnung) bestimmt:
„Der junge Arbeitnehmer hat Anspruch auf das Überbrückungsgeld, wenn er folgende Voraussetzungen erfüllt:
- Er ist nicht mehr schulpflichtig;
a) er hat eine Schulbildung mit Vollzeitunterricht der Sekundarstufe II oder der fach- oder berufsbildenden Sekundarstufe I an einer von einer Gemeinschaft errichteten, bezuschussten oder anerkannten Lehranstalt abgeschlossen ode...