Entscheidungsstichwort (Thema)
Vorlage zur Vorabentscheidung. Mehrwertsteuer. Recht auf Vorsteuerabzug. Verkauf eines Grundstücks zwischen Steuerpflichtigen. Verkäufer, über dessen Vermögen ein Insolvenzverfahren eröffnet wurde. Nationale Praxis, wonach dem Käufer das Recht auf Vorsteuerabzug mit der Begründung versagt wird, dass er von den Schwierigkeiten des Verkäufers, die nachgelagert geschuldete Mehrwertsteuer zu entrichten, Kenntnis gehabt habe oder hätte haben müssen. Betrug und Rechtsmissbrauch. Voraussetzungen
Normenkette
EGRL 112/2006 Art. 168 Buchst. a
Beteiligte
Valstybinė mokesčių inspekcija prie Lietuvos Respublikos finansų ministerijos |
Verfahrensgang
Lietuvos vyriausiasis administracinis teismas (Litauen) (Beschluss vom 31.03.2021; ABl. EU 2021, Nr. C 242/12) |
Tenor
Art. 168 Buchst. a der Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom 28. November 2006 über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem in Verbindung mit dem Grundsatz der steuerlichen Neutralität
ist dahin auszulegen, dass
er einer nationalen Praxis entgegensteht, nach der dem Käufer im Rahmen des Verkaufs eines Grundstücks zwischen Steuerpflichtigen das Recht auf Vorsteuerabzug allein deshalb versagt wird, weil er wusste oder hätte wissen müssen, dass sich der Verkäufer in finanziellen Schwierigkeiten befand oder gar zahlungsunfähig war und dass dieser Umstand möglicherweise zur Folge hat, dass der Verkäufer die Mehrwertsteuer nicht an den Fiskus zahlen würde oder nicht würde zahlen können.
Tatbestand
In der Rechtssache
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Lietuvos vyriausiasis administracinis teismas (Oberstes Verwaltungsgericht Litauens) mit Entscheidung vom 31. März 2021, beim Gerichtshof eingegangen am 9. April 2021, in dem Verfahren
UAB „HA.EN.”
gegen
Valstybinė mokesčių inspekcija prie Lietuvos Respublikos finansų ministerijos
erlässt
DER GERICHTSHOF (Vierte Kammer)
unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten C. Lycourgos, der Richter S. Rodin und J.-C. Bonichot sowie der Richterinnen L. S. Rossi und O. Spineanu-Matei (Berichterstatterin),
Generalanwältin: J. Kokott,
Kanzler: A. Calot Escobar,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
- der UAB „HA.EN.”, vertreten durch G. Kaminskas und Z. Stuglytė, Advokatai,
- der litauischen Regierung, vertreten durch K. Dieninis und V. Kazlauskaitė-Švenčionienė als Bevollmächtigte,
- der tschechischen Regierung, vertreten durch O. Serdula, M. Smolek und J. Vláčil als Bevollmächtigte,
- der Europäischen Kommission, vertreten durch J. Jokubauskaitė und L. Lozano Palacios als Bevollmächtigte,
nach Anhörung der Schlussanträge der Generalanwältin in der Sitzung vom 5. Mai 2022
folgendes
Urteil
Entscheidungsgründe
Rz. 1
Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung der Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom 28. November 2006 über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem (ABl. 2006, L 347, S. 1, im Folgenden: Mehrwertsteuerrichtlinie).
Rz. 2
Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen der UAB „HA.EN.” und der Valstybinė mokesčių inspekcija prie Lietuvos Respublikos finansų ministerijos (Staatliche Steuerinspektion beim Finanzministerium der Republik Litauen, im Folgenden: Steuerbehörde) wegen der Versagung des Rechts auf Vorsteuerabzug aufgrund eines von HA.EN. angeblich begangenen Rechtsmissbrauchs.
Rechtlicher Rahmen
Unionsrecht
Rz. 3
Die Erwägungsgründe 7 und 42 der Mehrwertsteuerrichtlinie lauten:
„(7) Das gemeinsame Mehrwertsteuersystem sollte, selbst wenn die Sätze und Befreiungen nicht völlig harmonisiert werden, eine Wettbewerbsneutralität in dem Sinne bewirken, dass gleichartige Gegenstände und Dienstleistungen innerhalb des Gebiets der einzelnen Mitgliedstaaten ungeachtet der Länge des Produktions- und Vertriebswegs steuerlich gleich belastet werden.
…
(42) Die Mitgliedstaaten sollten in die Lage versetzt werden, in bestimmten Fällen den Erwerber von Gegenständen oder den Dienstleistungsempfänger als Steuerschuldner zu bestimmen. Dies würde es den Mitgliedstaaten erlauben, die Vorschriften zu vereinfachen und die Steuerhinterziehung und -umgehung in bestimmten Sektoren oder bei bestimmten Arten von Umsätzen zu bekämpfen.”
Rz. 4
Art. 168 der Mehrwertsteuerrichtlinie sieht vor:
„Soweit die Gegenstände und Dienstleistungen für die Zwecke seiner besteuerten Umsätze verwendet werden, ist der Steuerpflichtige berechtigt, in dem Mitgliedstaat, in dem er diese Umsätze bewirkt, vom Betrag der von ihm geschuldeten Steuer folgende Beträge abzuziehen:
a) die in diesem Mitgliedstaat geschuldete oder entrichtete Mehrwertsteuer für Gegenstände und Dienstleistungen, die ihm von einem anderen Steuerpflichtigen geliefert bzw. erbracht wurden oder werden;
…”
Rz. 5
Art. 193 der Mehrwertsteuerrichtlinie lautet:
„Die Mehrwertsteuer schuldet der Steuerpflichtige, der Gegenstände steuerpflichtig liefert oder eine Dienstleistung steuerpflichtig erbringt, außer in den Fällen, in denen die Steuer gemäß den Artikeln 194 bis 199 sowie 202 von einer anderen Person geschuldet wird...