Entscheidungsstichwort (Thema)
Unionsbürgerschaft. Aufenthaltsrecht der Angehörigen von Drittstaaten, die Familienangehörige von Unionsbürgern sind. Auf der mangelnden Ausübung des Rechts auf Freizügigkeit durch den Unionsbürger beruhende Versagung. Mögliche Ungleichbehandlung gegenüber Unionsbürgern, die vom Recht auf Freizügigkeit Gebrauch gemacht haben. Assoziierungsabkommen EWG-Türkei. Art. 13 des Beschlusses Nr. 1/80 des Assoziationsrats. Art. 41 des Zusatzprotokolls. Stillhalteklauseln
Beteiligte
Bundesministerium für Inneres |
Tenor
1. Das Unionsrecht und insbesondere dessen Bestimmungen über die Unionsbürgerschaft sind dahin auszulegen, dass sie es einem Mitgliedstaat nicht verwehren, einem Drittstaatsangehörigen den Aufenthalt in seinem Hoheitsgebiet zu verweigern, wenn dieser Drittstaatsangehörige dort zusammen mit einem Familienangehörigen wohnen möchte, der Unionsbürger ist, sich in diesem Mitgliedstaat, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt, aufhält und nie von seinem Recht auf Freizügigkeit Gebrauch gemacht hat, sofern eine solche Weigerung nicht dazu führt, dass dem betreffenden Unionsbürger der tatsächliche Genuss des Kernbestands der Rechte, die der Unionsbürgerstatus verleiht, verwehrt wird; dies zu prüfen, ist Sache des vorlegenden Gerichts.
2. Art. 41 Abs. 1 des am 23. November 1970 in Brüssel unterzeichneten und durch die Verordnung (EWG) Nr. 2760/72 des Rates vom 19. Dezember 1972 im Namen der Gemeinschaft geschlossenen, gebilligten und bestätigten Zusatzprotokolls ist dahin auszulegen, dass der Erlass einer Neuregelung, die restriktiver ist als die Vorgängerregelung, mit der ihrerseits eine frühere Regelung gelockert wurde, die die Bedingungen für die Ausübung der Niederlassungsfreiheit türkischer Staatsangehöriger zum Zeitpunkt des Inkrafttretens des Zusatzprotokolls im Hoheitsgebiet des fraglichen Mitgliedstaats betraf, als „neue Beschränkung” im Sinne dieses Artikels anzusehen ist.
Tatbestand
In der Rechtssache
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Verwaltungsgerichtshof (Österreich) mit Entscheidung vom 5. Mai 2011, beim Gerichtshof eingegangen am 25. Mai 2011, in den Verfahren
Murat Dereci,
Vishaka Heiml,
Alban Kokollari,
Izunna Emmanuel Maduike,
Dragica Stevic
gegen
Bundesministerium für Inneres
erlässt
DER GERICHTSHOF (Große Kammer)
unter Mitwirkung des Präsidenten V. Skouris, der Kammerpräsidenten J. N. Cunha Rodrigues, K. Lenaerts, J.-C. Bonichot, J. Malenovský und U. Lõhmus, der Richterin R. Silva de Lapuerta (Berichterstatterin) sowie der Richter M. Ilešič und E. Levits,
Generalanwalt: P. Mengozzi,
Kanzler: K. Malacek, Verwaltungsrat,
aufgrund des Beschlusses des Präsidenten des Gerichtshofs vom 9. September 2011, das Vorabentscheidungsersuchen gemäß Art. 23a der Satzung des Gerichtshofs der Europäischen Union und Art. 104a Abs. 1 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs dem beschleunigten Verfahren zu unterwerfen,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 27. September 2011,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
- von Herrn M. Dereci, vertreten durch Rechtsanwalt H. Blum,
- der österreichischen Regierung, vertreten durch G. Hesse als Bevollmächtigten,
- der dänischen Regierung, vertreten durch C. Vang als Bevollmächtigten,
- der deutschen Regierung, vertreten durch T. Henze und N. Graf Vitzthum als Bevollmächtigte,
- Irlands, vertreten durch D. O'Hagan als Bevollmächtigten im Beistand von P. McCann, BL,
- der griechischen Regierung, vertreten durch T. Papadopoulou als Bevollmächtigte,
- der niederländischen Regierung, vertreten durch C. Wissels und J. Langer als Bevollmächtigte,
- der polnischen Regierung, vertreten durch B. Majczyna als Bevollmächtigten,
- der Regierung des Vereinigten Königreichs, vertreten durch S. Hathaway und S. Ossowski als Bevollmächtigte im Beistand von K. Beal, Barrister,
- der Europäischen Kommission, vertreten durch D. Maidani, C. Tufvesson und B.-R. Killmann als Bevollmächtigte,
nach Anhörung des Generalanwalts
folgendes
Urteil
Entscheidungsgründe
Rz. 1
Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung der Vorschriften des Unionsrechts über die Unionsbürgerschaft sowie des Beschlusses Nr. 1/80 des Assoziationsrats vom 19. September 1980 (im Folgenden: Beschluss Nr. 1/80) über die Entwicklung der Assoziation, die durch das von der Republik Türkei einerseits und den Mitgliedstaaten der EWG und der Gemeinschaft andererseits am 12. September 1963 in Ankara unterzeichnete und durch den Beschluss 64/732/EWG des Rates vom 23. Dezember 1963 (ABl. 1964, Nr. 217, S. 3685) im Namen der Gemeinschaft geschlossene, gebilligte und bestätigte Abkommen zur Gründung einer Assoziation zwischen der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft und der Türkei (im Folgenden: Assoziierungsabkommen) errichtet wurde, und des am 23. November 1970 in Brüssel unterzeichneten und durch die Verordnung (EWG) Nr. 2760/72 des Rates vom 19. Dezember 1972 (ABl. L ...