Entscheidungsstichwort (Thema)
Vorlage zur Vorabentscheidung. Eilvorabentscheidungsverfahren. Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts. Justizielle Zusammenarbeit in Zivilsachen. Zuständigkeit sowie Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Ehesachen und in Verfahren betreffend die elterliche Verantwortung. Internationale Kindesentführung. Antrag auf Rückgabe eines Kindes. Rechtskräftige Entscheidung, mit der die Rückgabe eines Kindes angeordnet wird. Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats, nach denen die Vollstreckung dieser Entscheidung im Fall eines von bestimmten nationalen Stellen gestellten Antrags von Rechts wegen ausgesetzt wird
Normenkette
Haager Übereinkommen von 1980; Verordnung (EG) Nr. 2201/2003 Art. 11
Beteiligte
Rzecznik Praw Dziecka u.a |
Tenor
Art. 11 Abs. 3 der Verordnung (EG) Nr. 2201/2003 des Rates vom 27. November 2003 über die Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Ehesachen und in Verfahren betreffend die elterliche Verantwortung und zur Aufhebung der Verordnung (EG) Nr. 1347/2000 ist im Licht von Art. 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union
dahin auszulegen, dass
er nationalen Rechtsvorschriften entgegensteht, nach denen Stellen, die nicht den Status eines Gerichts haben, die Aussetzung der Vollstreckung einer auf der Grundlage des am 25. Oktober 1980 in Den Haag geschlossenen Übereinkommens über die zivilrechtlichen Aspekte internationaler Kindesentführung ergangenen Rückgabeentscheidung von Rechts wegen für eine Dauer von mindestens zwei Monaten erwirken können, ohne ihren Antrag auf Aussetzung begründen zu müssen.
Tatbestand
In der Rechtssache
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Sąd Apelacyjny w Warszawie (Berufungsgericht Warschau, Polen) mit Entscheidung vom 12. Oktober 2022, beim Gerichtshof eingegangen am 13. Oktober 2022, in dem Verfahren
T. C.,
Rzecznik Praw Dziecka,
Prokurator Generalny,
Beteiligte:
M. C.,
Prokurator Prokuratury Okręgowej we Wrocławiu,
erlässt
DER GERICHTSHOF (Dritte Kammer)
unter Mitwirkung der Kammerpräsidentin K. Jürimäe (Berichterstatterin) sowie der Richter M. Safjan, N. Piçarra, N. Jääskinen und M. Gavalec,
Generalanwalt: N. Emiliou,
Kanzler: M. Siekierzyńska, Verwaltungsrätin,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 8. Dezember 2022,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
- von T. C., vertreten durch I. Antkowiak, Adwokat, M. Bieszczad, Radca prawny, und D. Kosobucki, Adwokat,
- von M. C., vertreten durch A. Řliwicka, Adwokat,
- des Prokurator Generalny, vertreten durch S. Bańko, R. Hernand und E. Tkacz,
- der polnischen Regierung, vertreten durch B. Majczyna und S. Żyrek als Bevollmächtigte,
- der belgischen Regierung, vertreten durch M. Jacobs, C. Pochet und M. Van Regemorter als Bevollmächtigte,
- der französischen Regierung, vertreten durch A. Daniel und E. Timmermans als Bevollmächtigte,
- der niederländischen Regierung, vertreten durch C. S. Schillemans als Bevollmächtigte,
- der Europäischen Kommission, vertreten durch J. Hottiaux und S. Noë als Bevollmächtigte,
nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 12. Januar 2023
folgendes
Urteil
Entscheidungsgründe
Rz. 1
Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 11 Abs. 3 der Verordnung (EG) Nr. 2201/2003 des Rates vom 27. November 2003 über die Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Ehesachen und in Verfahren betreffend die elterliche Verantwortung und zur Aufhebung der Verordnung (EG) Nr. 1347/2000 (ABl. 2003, L 338, S. 1) sowie von Art. 22, Art. 24, Art. 27 Abs. 6 und Art. 28 Abs. 1 und 2 der Verordnung (EU) 2019/1111 des Rates vom 25. Juni 2019 über die Zuständigkeit, die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Ehesachen und in Verfahren betreffend die elterliche Verantwortung und über internationale Kindesentführungen (ABl. 2019, L 178, S. 1) in Verbindung mit Art. 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta).
Rz. 2
Es ergeht im Rahmen eines Verfahrens, das von T. C., dem Vater von zwei minderjährigen Kindern, eingeleitet wurde und auf die Vollstreckung einer Entscheidung über die Rückgabe dieser von M. C., ihrer Mutter, nach Polen verbrachten Kinder nach Irland gerichtet ist.
Rechtlicher Rahmen
Völkerrecht
Rz. 3
Mit dem am 25. Oktober 1980 in Den Haag geschlossenen Übereinkommen über die zivilrechtlichen Aspekte internationaler Kindesentführung (im Folgenden: Haager Übereinkommen von 1980) wird, wie aus seiner Präambel hervorgeht, insbesondere bezweckt, das Kind vor den Nachteilen eines widerrechtlichen Verbringens oder Zurückhaltens international zu schützen und Verfahren einzuführen, um seine sofortige Rückgabe in den Staat seines gewöhnlichen Aufenthalts sicherzustellen. Dieses am 1. Dezember 1983 in Kraft getretene Übereinkommen wurde von allen Mitgliedstaaten der Europäischen Union ratifiziert.
Rz. 4
Nach seinem Art. 1 Buchst....