Entscheidungsstichwort (Thema)
Unternehmenszusammenschlüsse. Beherrschende Stellung. Vorlage zur Vorabentscheidung. Wettbewerb. Kontrolle von Unternehmenszusammenschlüssen. Ausschließliche Anwendung dieser Verordnung auf unter den Begriff des Zusammenschlusses fallende Vorgänge. Tragweite. Zusammenschluss, der nicht von gemeinschaftsweiter Bedeutung ist, unterhalb der vom Recht eines Mitgliedstaats vorgesehenen Schwellen für eine verpflichtende Ex-ante-Kontrolle liegt und nicht zu einer Verweisung an die Europäische Kommission geführt hat. Kontrolle eines solchen Zusammenschlusses durch die Wettbewerbsbehörden dieses Mitgliedstaats am Maßstab des Art. 102 AEUV. Zulässigkeit
Normenkette
Verordnung (EG) Nr. 139/2004 Art. 21 Abs. 1
Beteiligte
Autorité de la concurrence |
Ministre chargé de l’économie |
Tenor
Art. 21 Abs. 1 der Verordnung (EG) Nr. 139/2004 des Rates vom 20. Januar 2004 über die Kontrolle von Unternehmenszusammenschlüssen
ist dahin auszulegen, dass
er es nicht verwehrt, dass ein Unternehmenszusammenschluss, der nicht von gemeinschaftsweiter Bedeutung im Sinne von Art. 1 dieser Verordnung ist, unterhalb der vom nationalen Recht vorgesehenen Schwellen für eine verpflichtendeEx-ante-Kontrolle liegt und nicht gemäß Art. 22 der genannten Verordnung zu einer Verweisung an die Europäische Kommission geführt hat, in Anbetracht der Struktur des Wettbewerbs auf einem nationalen Markt von einer Wettbewerbsbehörde eines Mitgliedstaats als ein von Art. 102 AEUV verbotener Missbrauch einer beherrschenden Stellung beurteilt wird.
Tatbestand
In der Rechtssache C-449/21
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht von der Cour d’appel de Paris (Berufungsgericht Paris, Frankreich) mit Entscheidung vom 1. Juli 2021, beim Gerichtshof eingegangen am 21. Juli 2021, in dem Verfahren
Towercast SASU
gegen
Autorité de la concurrence,
Ministre chargé de l’économie,
Beteiligte:
Tivana Topco SA,
Tivana Midco SARL,
TDF Infrastructure Holding SAS,
TDF Infrastructure SAS,
Tivana France Holdings SAS,
erlässt
DER GERICHTSHOF (Zweite Kammer)
unter Mitwirkung der Kammerpräsidentin A. Prechal, der Richterin M. L. Arastey Sahún sowie der Richter F. Biltgen, N. Wahl (Berichterstatter) und J. Passer,
Generalanwältin: J. Kokott,
Kanzler: A. Calot Escobar,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 6. Juli 2022,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
- – der Towercast SASU, vertreten durch P. Mèle und D. Théophile, Avocats,
- – der Autorité de la concurrence, vertreten durch E. Combe und J. Neto als Bevollmächtigte im Beistand von Y. Anselin, Avocat,
- – der Tivana Midco SARL und der Tivana Topco SA, vertreten durch S. Hamon und M.-C. Rameau, Avocates,
- – der Tivana France Holdings SAS, der TDF Infrastructure SAS und der TDF Infrastructure Holding SAS, vertreten durch H. Calvet, Y. Chevalier, A. Helfer, F. Salat-Baroux und Y. Trifounovitch, Avocats,
- – der französischen Regierung, vertreten durch G. Bain, A.-L. Desjonquères und P. Dodeller als Bevollmächtigte,
- – der italienischen Regierung, vertreten durch G. Palmieri als Bevollmächtigte im Beistand von G. Aiello, Avvocato dello Stato,
- – der niederländischen Regierung, vertreten durch M. Bulterman, P. Huurnink und C. S. Schillemans als Bevollmächtigte,
- – der Europäischen Kommission, vertreten durch T. Baumé, P. Berghe und F. Castillo de la Torre als Bevollmächtigte,
nach Anhörung der Schlussanträge der Generalanwältin in der Sitzung vom 13. Oktober 2022
folgendes
Urteil
Entscheidungsgründe
Rz. 1
Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 21 Abs. 1 der Verordnung (EG) Nr. 139/2004 des Rates vom 20. Januar 2004 über die Kontrolle von Unternehmenszusammenschlüssen (ABl. 2004, L 24, S. 1).
Rz. 2
Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen der Towercast SASU auf der einen Seite und der Autorité de la concurrence (Wettbewerbsbehörde, Frankreich) und dem Ministre de l’économie (Minister für Wirtschaft, Frankreich) auf der anderen Seite wegen einer Entscheidung, mit der die Beschwerde von Towercast wegen Missbrauchs einer beherrschenden Stellung zurückgewiesen wurde.
Rechtlicher Rahmen
Unionsrecht
Verordnung (EWG) Nr. 4064/89
Rz. 3
Die Verordnung (EWG) Nr. 4064/89 des Rates vom 21. Dezember 1989 über die Kontrolle von Unternehmenszusammenschlüssen (ABl. 1989, L 395, S. 1) trat am 21. September 1990 in Kraft. Ihre Erwägungsgründe 6 bis 8 sahen vor:
„6. Die Artikel 85 und 86 des [EWG-] Vertrages sind zwar nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs auf bestimmte Zusammenschlüsse anwendbar, reichen jedoch nicht aus, um alle Zusammenschlüsse zu erfassen, die sich als unvereinbar mit dem vom Vertrag geforderten System des unverfälschten Wettbewerbs erweisen könnten.
7. Daher ist ein neues Rechtsinstrument in Form einer Verordnung zu schaffen, die eine wirksame Kontrolle sämtlicher Zusammenschlüsse entsprechend ihren Auswirkungen auf die Wettbewerbsstruktur in der [Europäisc...