Entscheidungsstichwort (Thema)
Vorlage zur Vorabentscheidung. Justizielle Zusammenarbeit in Zivilsachen. Gerichtliche Zuständigkeit und Vollstreckung von Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen. Mahnverfahren. Begriff ‚Wohnsitz‘. Staatsangehöriger eines Mitgliedstaats, der seine ständige Anschrift in diesem Mitgliedstaat und seine aktuelle Anschrift in einem anderen Mitgliedstaat hat. Unmöglichkeit, diese ständige Anschrift zu ändern oder darauf zu verzichten
Normenkette
Verordnung (EU) Nr. 1215/2012
Beteiligte
Toplofikatsia Sofia (Notion de domicile du défendeur) |
Tenor
1.Art. 62 Abs. 1 der Verordnung (EU) Nr. 1215/2012 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 12. Dezember 2012 über die gerichtliche Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen
ist dahin auszulegen, dass
er einer nationalen Regelung entgegensteht, wonach als Wohnsitz von Staatsangehörigen eines Mitgliedstaats, die in einem anderen Mitgliedstaat wohnen, eine Anschrift gilt, die immer im ersten Mitgliedstaat eingetragen bleibt.
2.Art. 4 Abs. 1 und Art. 5 Abs. 1 der Verordnung Nr. 1215/2012
sind dahin auszulegen, dass
sie dem entgegenstehen, dass eine nationale Regelung in ihrer Auslegung durch die nationale Rechtsprechung einem Gericht eines Mitgliedstaats in anderen als den in den Abschnitten 2 bis 7 des Kapitels II dieser Verordnung vorgesehenen Situationen die Zuständigkeit verleiht, einen Mahnbescheid gegen einen Schuldner zu erlassen, bei dem plausible Gründe für die Annahme bestehen, dass er zum Zeitpunkt der Stellung des Antrags auf Erlass des Mahnbescheids seinen Wohnsitz im Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats hatte.
3.Art. 7 Verordnung (EU) 2020/1784 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 25. November 2020 über die Zustellung gerichtlicher und außergerichtlicher Schriftstücke in Zivil- oder Handelssachen in den Mitgliedstaaten (Zustellung von Schriftstücken)
ist dahin auszulegen, dass
er einem Gericht eines Mitgliedstaats, das für den Erlass eines Mahnbescheids gegen einen Schuldner zuständig ist, bei dem plausible Gründe für die Annahme bestehen, dass er seinen Wohnsitz im Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats hat, nicht verwehrt, sich an die zuständigen Behörden zu wenden und die von diesem anderen Mitgliedstaat zur Verfügung gestellten Mittel zu nutzen, um zum Zweck der Zustellung des Mahnbescheids die Anschrift dieses Schuldners zu ermitteln.
Tatbestand
In der Rechtssache C-222/23
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Sofiyski rayonen sad (Rayongericht Sofia, Bulgarien) mit Entscheidung vom 7. April 2023, beim Gerichtshof eingegangen am 7. April 2023, in dem Verfahren
„Toplofikatsia Sofia“ EAD
erlässt
DER GERICHTSHOF (Vierte Kammer)
unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten C. Lycourgos, der Richterin O. Spineanu-Matei (Berichterstatterin), der Richter J.-C. Bonichot und S. Rodin sowie der Richterin L. S. Rossi,
Generalanwalt: J. Richard de la Tour,
Kanzler: A. Calot Escobar,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
- – der Europäischen Kommission, vertreten durch S. Noë und I. Zaloguin als Bevollmächtigte,
aufgrund des nach Anhörung des Generalanwalts ergangenen Beschlusses, ohne Schlussanträge über die Rechtssache zu entscheiden,
folgendes
Urteil
Entscheidungsgründe
Rz. 1
Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 18 Abs. 1 und Art. 21 AEUV, Art. 47 Abs. 2 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta), Art. 4 Abs. 1, Art. 5 Abs. 1 und Art. 62 Abs. 1 der Verordnung (EU) Nr. 1215/2012 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 12. Dezember 2012 über die gerichtliche Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen (ABl. 2012, L 351, S. 1) sowie Art. 7 und Art. 22 Abs. 1 und 2 der Verordnung (EU) 2020/1784 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 25. November 2020 über die Zustellung gerichtlicher und außergerichtlicher Schriftstücke in Zivil- oder Handelssachen in den Mitgliedstaaten (Zustellung von Schriftstücken) (ABl. 2020, L 405, S. 40).
Rz. 2
Es ergeht im Rahmen eines Verfahrens zum Erlass eines Mahnbescheids, das die „Toplofikatsia Sofia“ EAD, ein Wärmeenergieversorger, gegen V.Z.A., einen Kunden und Schuldner, wegen eines Geldbetrags angestrengt hat, der dem Wert der Fernwärme entspricht, die für seine Wohnung in Sofia (Bulgarien) geliefert wurde.
Rechtlicher Rahmen
Unionsrecht
Verordnung Nr. 1215/2012
Rz. 3
In den Erwägungsgründen 13 und 15 der Verordnung Nr. 1215/2012 heißt es:
„(13) Zwischen den Verfahren, die unter diese Verordnung fallen, und dem Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten muss ein Anknüpfungspunkt bestehen. Gemeinsame Zuständigkeitsvorschriften sollten demnach grundsätzlich dann Anwendung finden, wenn der Beklagte seinen Wohnsitz in einem Mitgliedstaat hat.
…
(15) Die Zuständigkeitsvorschriften sollten in hohem Maße vorhersehbar sein und sich grundsätzlich nach dem Wohnsitz...