Entscheidungsstichwort (Thema)
Vorlage zur Vorabentscheidung. Societas Europaea. Beteiligung der Arbeitnehmer. Eintragung der Europäischen Gesellschaft. Voraussetzungen. Vorherige Durchführung des Verhandlungsverfahrens zur Beteiligung der Arbeitnehmer gemäß der Richtlinie 2001/86/EG. Arbeitnehmerlos gegründete und eingetragene Europäische Gesellschaft, die aber die Muttergesellschaft von Arbeitnehmer beschäftigenden Tochtergesellschaften geworden ist. Verpflichtung zur Nachholung des Verhandlungsverfahrens. Fehlen. Missbräuchlicher Rückgriff auf eine Europäische Gesellschaft. Vorenthaltung der Beteiligungsrechte der Arbeitnehmer. Verbot
Normenkette
Verordnung (EG) Nr. 2157/2001 Art. 12 Abs. 2; EG-RL 86/2001; EG-RL 86/2001 Art. 11
Beteiligte
Konzernbetriebsrat der O SE & Co. KG |
Vorstand der O Holding SE |
Tenor
Art. 12 Abs. 2 der Verordnung (EG) Nr. 2157/2001 des Rates vom 8. Oktober 2001 über das Statut der Europäischen Gesellschaft (SE) in Verbindung mit den Art. 3 bis 7 der Richtlinie 2001/86/EG des Rates vom 8. Oktober 2001 zur Ergänzung des Statuts der Europäischen Gesellschaft hinsichtlich der Beteiligung der Arbeitnehmer
ist dahin auszulegen, dass
er, wenn eine Holding-SE, die von beteiligten Gesellschaften gegründet wird, die keine Arbeitnehmer beschäftigen und nicht über Arbeitnehmer beschäftigende Tochtergesellschaften verfügen, ohne vorherige Durchführung von Verhandlungen zur Beteiligung der Arbeitnehmer eingetragen wird, die spätere Aufnahme solcher Verhandlungen nicht deswegen vorschreibt, weil diese SE herrschendes Unternehmen von Arbeitnehmer beschäftigenden Tochtergesellschaften in einem oder mehreren Mitgliedstaaten geworden ist.
Tatbestand
In der Rechtssache C-706/22
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Bundesarbeitsgericht (Deutschland) mit Entscheidung vom 17. Mai 2022, beim Gerichtshof eingegangen am 17. November 2022, in dem Verfahren
Konzernbetriebsrat der O SE & Co. KG
gegen
Vorstand der O Holding SE
erlässt
DER GERICHTSHOF (Zweite Kammer)
unter Mitwirkung der Kammerpräsidentin A. Prechal, des Vizepräsidenten des Gerichtshofs L. Bay Larsen in Wahrnehmung der Aufgaben eines Richters der Zweiten Kammer, der Richter F. Biltgen (Berichterstatter) und J. Passer sowie der Richterin M. L. Arastey Sahún,
Generalanwalt: J. Richard de la Tour,
Kanzler: D. Dittert, Referatsleiter,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 28. September 2023,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
- – des Konzernbetriebsrats der O SE & Co. KG, vertreten durch Rechtsanwalt T. Lemke,
- – des Vorstands der O Holding SE, vertreten durch Rechtsanwalt C. Crisolli,
- – der deutschen Regierung, vertreten durch J. Möller, R. Kanitz und N. Scheffel als Bevollmächtigte,
- – der luxemburgischen Regierung, vertreten durch T. Schell als Bevollmächtigten im Beistand von S. Sunnen und V. Verdanet, Avocats,
- – der Europäischen Kommission, zunächst vertreten durch G. Braun, B.-R. Killmann und L. Malferrari, dann durch B.-R. Killmann und L. Malferrari als Bevollmächtigte,
nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 7. Dezember 2023
folgendes
Urteil
Entscheidungsgründe
Rz. 1
Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 12 Abs. 2 der Verordnung (EG) Nr. 2157/2001 des Rates vom 8. Oktober 2001 über das Statut der Europäischen Gesellschaft (SE) (ABl. 2001, L 294, S. 1) und der Art. 3 bis 7 der Richtlinie 2001/86/EG des Rates vom 8. Oktober 2001 zur Ergänzung des Statuts der Europäischen Gesellschaft hinsichtlich der Beteiligung der Arbeitnehmer (ABl. 2001, L 294, S. 22).
Rz. 2
Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen dem Konzernbetriebsrat der O SE & Co. KG (im Folgenden: Konzernbetriebsrat der O KG) und dem Vorstand der O Holding SE wegen eines Antrags auf Einsetzung eines besonderen Verhandlungsgremiums zum Zweck der Nachholung des in den Art. 3 bis 7 der Richtlinie 2001/86 zur Beteiligung der Arbeitnehmer vorgesehenen Verhandlungsverfahrens.
Rechtlicher Rahmen
Unionsrecht
Verordnung Nr. 2157/2001
Rz. 3
In den Erwägungsgründen 1, 2, 19 und 21 der Verordnung Nr. 2157/2001 heißt es:
„(1) Voraussetzung für die Verwirklichung des Binnenmarkts und für die damit angestrebte Verbesserung der wirtschaftlichen und sozialen Lage in der gesamten [Europäischen] Gemeinschaft ist außer der Beseitigung der Handelshemmnisse eine gemeinschaftsweite Reorganisation der Produktionsfaktoren. Dazu ist es unerlässlich, dass die Unternehmen, deren Tätigkeit sich nicht auf die Befriedigung rein örtlicher Bedürfnisse beschränkt, die Neuordnung ihrer Tätigkeiten auf Gemeinschaftsebene planen und betreiben können.
(2) Eine solche Umgestaltung setzt die Möglichkeit voraus, das Wirtschaftspotential bereits bestehender Unternehmen mehrerer Mitgliedstaaten durch Konzentrations- und Fusionsmaßnahmen zusammenzufassen. Dies darf jedoch nur unter Beachtung der Wettbewerbsregeln des Vertrags geschehen.
…
(19) Die S...