Entscheidungsstichwort (Thema)
Vorabentscheidungsersuchen. Richtlinie 98/59/EG. Art. 2 und 6. Verfahren zur Information und Konsultation der Belegschaft bei Massenentlassungen. Pflichten des Arbeitgebers. Klagerecht der Arbeitnehmer. Gebot gemeinschaftsrechtskonformer Auslegung
Beteiligte
Mono Car Styling SA, in Liquidation |
Tenor
1. Art. 6 in Verbindung mit Art. 2 der Richtlinie 98/59/EG des Rates vom 20. Juli 1998 zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über Massenentlassungen ist dahin auszulegen, dass er einer nationalen Regelung nicht entgegensteht, die Verfahren vorsieht, die sowohl den Arbeitnehmervertretern als auch dem einzelnen Arbeitnehmer ermöglichen sollen, die Einhaltung der in dieser Richtlinie vorgesehenen Verpflichtungen überprüfen zu lassen, aber das individuelle Klagerecht der Arbeitnehmer hinsichtlich der möglichen Rügen beschränkt und davon abhängig macht, dass zuvor die Arbeitnehmervertreter Einspruch beim Arbeitgeber erhoben haben und der betreffende Arbeitnehmer dem Arbeitgeber mitgeteilt hat, dass er die Nichteinhaltung des Verfahrens der Information und Konsultation geltend mache.
2. Der Umstand, dass eine nationale Regelung, die Verfahren vorsieht, mit denen Arbeitnehmervertreter überprüfen lassen können, ob der Arbeitgeber alle in der Richtlinie 98/59 erwähnten Informations- und Konsultationspflichten erfüllt hat, das individuelle Klagerecht, das sie darüber hinaus jedem von einer Massenentlassung betroffenen Arbeitnehmer einräumt, beschränkt und von Voraussetzungen abhängig macht, verstößt nicht gegen den Grundsatz des effektiven gerichtlichen Rechtsschutzes.
3. Art. 2 der Richtlinie 98/59 ist dahin auszulegen, dass er einer nationalen Regelung entgegensteht, die die Verpflichtungen des Arbeitgebers, der Massenentlassungen vornehmen möchte, gegenüber den in Art. 2 der Richtlinie vorgesehenen Verpflichtungen verringert. Bei der Anwendung des innerstaatlichen Rechts hat das nationale Gericht in Anwendung des Grundsatzes der gemeinschaftsrechtskonformen Auslegung des nationalen Rechts dieses Recht in seiner Gesamtheit zu berücksichtigen und es so weit wie möglich am Wortlaut und Zweck der Richtlinie 98/59 auszulegen, um das in dieser festgelegte Ergebnis zu erreichen. Folglich ist es Sache des nationalen Gerichts, im Rahmen seiner Zuständigkeit zu gewährleisten, dass die Verpflichtungen eines solchen Arbeitgebers gegenüber den Verpflichtungen nach Art. 2 der Richtlinie nicht verringert werden.
Tatbestand
In der Rechtssache
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 234 EG, eingereicht von der Cour du travail de Liège (Belgien) mit Entscheidung vom 3. Januar 2008, beim Gerichtshof eingegangen am 11. Januar 2008, in dem Verfahren
Mono Car Styling SA, in Liquidation,
gegen
Dervis Odemis u. a.
erlässt
DER GERICHTSHOF (Vierte Kammer)
unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten K. Lenaerts, des Richters T. von Danwitz, der Richterin R. Silva de Lapuerta (Berichterstatterin) sowie der Richter E. Juhász und J. Malenovský,
Generalanwalt: P. Mengozzi,
Kanzler: M. Ferreira, Hauptverwaltungsrätin,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 6. November 2008,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
- der Mono Car Styling SA, in Liquidation, vertreten durch P. Cavenaile und F. Ligot, avocats,
- von D. Odemis u. a., vertreten durch H. Deckers, avocat,
- der belgischen Regierung, vertreten durch L. Van den Broeck als Bevollmächtigte im Beistand von G. Demez, avocat,
- der Regierung des Vereinigten Königreichs, vertreten durch I. Rao als Bevollmächtigte im Beistand von K. Smith, Barrister,
- der Kommission der Europäischen Gemeinschaften, vertreten durch M. Van Hoof und J. Enegren als Bevollmächtigte,
nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 21. Januar 2009
folgendes
Urteil
Entscheidungsgründe
Rz. 1
Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung der Art. 2 und 6 der Richtlinie 98/59/EG des Rates vom 20. Juli 1998 zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über Massenentlassungen (ABl. L 225, S. 16).
Rz. 2
Dieses Ersuchen ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen der Mono Car Styling SA (im Folgenden: Mono Car), in Liquidation, und einigen ihrer ehemaligen Arbeitnehmer wegen deren Massenentlassung.
Rechtlicher Rahmen
Europäische Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten
Rz. 3
Art. 6 Abs. 1 der Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten, unterzeichnet in Rom am 4. November 1950 (im Folgenden: EMRK) sieht unter dem Titel „Recht auf ein faires Verfahren” vor:
„Jede Person hat ein Recht darauf, dass über Streitigkeiten in Bezug auf ihre zivilrechtlichen Ansprüche und Verpflichtungen oder über eine gegen sie erhobene strafrechtliche Anklage von einem unabhängigen und unparteiischen, auf Gesetz beruhenden Gericht in einem fairen Verfahren, öffentlich und innerhalb angemessener Frist verhandelt wird …”
Gemeinschaftsrecht
Rz. 4
Mit der Richtlinie 98/59 wurde die Rich...