Entscheidungsstichwort (Thema)
Sozialpolitik. Schutz der Arbeitnehmer. Zahlungsunfähigkeit des Arbeitgebers. Richtlinie 80/987/EWG. Verpflichtung zur Befriedigung sämtlicher nicht erfüllter Ansprüche bis zu einer im Voraus festgelegten Höchstgrenze. Natur der Ansprüche des Arbeitnehmers gegen die Garantieeinrichtung. Verjährungsfrist
Beteiligte
Istituto nazionale della previdenza sociale (INPS) |
Tenor
1. Die Art. 3 und 4 der Richtlinie 80/987/EWG des Rates vom 20. Oktober 1980 zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über den Schutz der Arbeitnehmer bei Zahlungsunfähigkeit des Arbeitgebers stehen einer nationalen Regelung nicht entgegen, nach der nicht erfüllte Ansprüche der Arbeitnehmer als Ansprüche auf „Leistungen der sozialen Sicherheit” betrachtet werden können, wenn sie von einer Garantieeinrichtung befriedigt werden.
2. Die Richtlinie 80/987 steht einer nationalen Regelung nicht entgegen, die den ursprünglichen Arbeitsentgeltanspruch des Arbeitnehmers als bloßen Ausgangspunkt für die Bestimmung der Leistung verwendet, die durch die Intervention eines Garantiefonds zu sichern ist.
3. Im Rahmen des Antrags eines Arbeitnehmers auf Befriedigung nicht erfüllter Ansprüche auf Arbeitsentgelt durch einen Garantiefonds steht die Richtlinie 80/987 der Anwendung einer Verjährungsfrist von einem Jahr nicht entgegen (Grundsatz der Äquivalenz). Das nationale Gericht hat jedoch zu prüfen, ob ihre Ausgestaltung die Ausübung der durch die Gemeinschaftsrechtsordnung verliehenen Rechte nicht praktisch unmöglich macht oder übermäßig erschwert (Grundsatz der Effektivität).
Tatbestand
In der Rechtssache
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 234 EG, eingereicht vom Tribunale di Napoli (Italien) mit Entscheidung vom 29. Januar 2008, beim Gerichtshof eingegangen am 20. Februar 2008, in dem Verfahren
Raffaello Visciano
gegen
Istituto nazionale della previdenza sociale (INPS)
erlässt
DER GERICHTSHOF (Zweite Kammer)
unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten C. W. A. Timmermans, der Richter K. Schiemann, J. Makarczyk und P. Kūris (Berichterstatter) sowie der Richterin C. Toader,
Generalanwältin: V. Trstenjak,
Kanzler: L. Hewlett, Hauptverwaltungsrätin,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 12. Februar 2009,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
- von Herrn Visciano, vertreten durch G. Nucifero, avvocato,
- des Istituto nazionale della previdenza sociale (INPS), vertreten durch V. Triolo, G. Fabiani und P. Tadris, avvocati,
- der italienischen Regierung, vertreten durch I. Bruni als Bevollmächtigte im Beistand von W. Ferrante, avvocato dello Stato,
- der spanischen Regierung, vertreten durch B. Plaza Cruz als Bevollmächtigte,
- der niederländischen Regierung, vertreten durch C. M. Wissels und C. ten Dam als Bevollmächtigte,
- der Kommission der Europäischen Gemeinschaften, vertreten durch L. Pignataro-Nolin und J. Enegren als Bevollmächtigte,
nach Anhörung der Schlussanträge der Generalanwältin in der Sitzung vom 2. April 2009
folgendes
Urteil
Entscheidungsgründe
Rz. 1
Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung der Art. 3 und 4 der Richtlinie 80/987/EWG des Rates vom 20. Oktober 1980 zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über den Schutz der Arbeitnehmer bei Zahlungsunfähigkeit des Arbeitgebers (ABl. L 283, S. 23).
Rz. 2
Dieses Ersuchen ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischeen Herrn Visciano und dem Istituto nazionale della previdenza sociale (INPS) (Nationales Sozialversicherungsinstitut) wegen nicht erfüllter Ansprüche aus dem Arbeitsverhältnis.
Rechtlicher Rahmen
Gemeinschaftsregelung
Rz. 3
Im ersten Erwägungsgrund der Richtlinie 80/987 heißt es:
„Es sind Bestimmungen notwendig, die die Arbeitnehmer bei Zahlungsunfähigkeit des Arbeitgebers schützen und insbesondere die Zahlung ihrer nichterfüllten Ansprüche … gewährleisten.”
Rz. 4
Art. 1 Abs. 1 und 2 dieser Richtlinie sieht vor:
„(1) Diese Richtlinie gilt für Ansprüche von Arbeitnehmern aus Arbeitsverträgen oder Arbeitsverhältnissen gegen Arbeitgeber, die zahlungsunfähig im Sinne des Artikels 2 Absatz 1 sind.
(2) Die Mitgliedstaaten können die Ansprüche bestimmter Gruppen von Arbeitnehmern wegen der besonderen Art des Arbeitsvertrags oder Arbeitsverhältnisses der Arbeitnehmer oder wegen des Bestehens anderer Garantieformen, die den Arbeitnehmern einen Schutz gewährleisten, der dem sich aus dieser Richtlinie ergebenden Schutz gleichwertig ist, vom Anwendungsbereich dieser Richtlinie ausnahmsweise ausschließen.
Die Liste der in Unterabsatz 1 genannten Gruppen von Arbeitnehmern befindet sich im Anhang.”
Rz. 5
Art. 2 Abs. 2 der Richtlinie lautet:
„Diese Richtlinie lässt das einzelstaatliche Recht bezüglich der Begriffsbestimmung der Worte ‚Arbeitnehmer’, ‚Arbeitgeber’, ‚Arbeitsentgelt’ ‚erworbenes Recht’ und ‚Anwartschaftsrecht’ unberührt.
Rz. 6
Art. 3 der Richtlinie 80/987 bestimmt:
„(1) Die Mitgliedstaaten treffen die erforderlichen Maßnahmen, damit vorbehaltlich des Artikels 4 Garantieeinrichtun...