Entscheidungsstichwort (Thema)

Vorlage zur Vorabentscheidung. Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts. Einwanderungspolitik. Recht auf Familienzusammenführung. Begriff ‚minderjähriges Kind’. Kindeswohl. Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf. Kinder des Zusammenführenden, die während des Entscheidungsprozesses oder im Lauf des gerichtlichen Verfahrens gegen die Ablehnung des Antrags auf Familienzusammenführung volljährig geworden sind

 

Normenkette

Richtlinie 2003/86/EG Art. 4 Abs. 1; Charta der Grundrechte der Europäischen Union Art. 47, 24 Abs. 2

 

Beteiligte

État belge

B. M. M

B. S

B. M

B. M. O

État belge

 

Tenor

1. Art. 4 Abs. 1 Unterabs. 1 Buchst. c der Richtlinie 2003/86/EG des Rates vom 22. September 2003 betreffend das Recht auf Familienzusammenführung ist dahin auszulegen, dass der Zeitpunkt, auf den abzustellen ist, um zu bestimmen, ob ein unverheirateter Drittstaatsangehöriger oder Staatenloser ein minderjähriges Kind im Sinne dieser Bestimmung ist, derjenige Zeitpunkt ist, zu dem der Antrag auf Einreise und Aufenthalt zum Zwecke der Familienzusammenführung für minderjährige Kinder gestellt wird, und nicht derjenige Zeitpunkt, zu dem durch die zuständigen Behörden des Mitgliedstaats, gegebenenfalls nachdem ein Rechtsbehelf gegen die Ablehnung eines solchen Antrags eingelegt wurde, über den Antrag entschieden wird.

2. Art. 18 der Richtlinie 2003/86 in Verbindung mit Art. 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union ist dahin auszulegen, dass er dem entgegensteht, dass ein Rechtsbehelf gegen die Ablehnung eines Antrags auf Familienzusammenführung eines minderjährigen Kindes allein deshalb als unzulässig zurückgewiesen wird, weil das Kind im Lauf des gerichtlichen Verfahrens volljährig geworden ist.

 

Tatbestand

In den verbundenen Rechtssachen

betreffend Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Conseil d'État (Staatsrat, Belgien) mit Entscheidungen vom 31. Januar 2019, beim Gerichtshof eingegangen am 19. Februar 2019 (C-133/19) sowie am 20. Februar 2019 (C-136/19 und C-137/19), in den Verfahren

B. M. M. (C-133/19 und C-136/19),

B. S. (C-133/19),

B. M. (C-136/19),

B. M. O. (C-137/19)

gegen

État belge

erlässt

DER GERICHTSHOF (Dritte Kammer)

unter Mitwirkung der Kammerpräsidentin A. Prechal, der Richterin L. S. Rossi (Berichterstatterin) sowie der Richter J. Malenovský, F. Biltgen und N. Wahl,

Generalanwalt: G. Hogan,

Kanzler: M. Krausenböck, Verwaltungsrätin,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 30. Januar 2020,

unter Berücksichtigung der Erklärungen

  • von B. M. M., B. S., B. M. und B. M. O., vertreten durch A. Van Vyve, avocate,
  • der belgischen Regierung, vertreten durch P. Cottin, C. Pochet und C. Van Lul als Bevollmächtigte im Beistand von E. Derriks, G. van Witzenburg und M. de Sousa Marques E Silva, avocats,
  • der deutschen Regierung, vertreten durch R. Kanitz und J. Möller als Bevollmächtigte,
  • der österreichischen Regierung, vertreten durch J. Schmoll als Bevollmächtigte,
  • der polnischen Regierung, vertreten durch B. Majczyna als Bevollmächtigten,
  • der Europäischen Kommission, vertreten durch C. Cattabriga und M. Condou-Durande als Bevollmächtigte,

nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 19. März 2020

folgendes

Urteil

 

Entscheidungsgründe

Rz. 1

Die Vorabentscheidungsersuchen betreffen die Auslegung der Richtlinie 2003/86/EG des Rates vom 22. September 2003 betreffend das Recht auf Familienzusammenführung (ABl. 2003, L 251, S. 12) und von Art. 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta).

Rz. 2

Sie ergehen im Rahmen von Rechtsstreitigkeiten zwischen den guineischen Staatsangehörigen B. M. M. (C-133/19 und C-136/19), B. S. (C-133/19), B. M. (C-136/19) und B. M. O. (C-137/19) auf der einen und dem État belge (Belgischer Staat) auf der anderen Seite wegen der Ablehnung von Anträgen auf Erteilung eines Visums für eine Familienzusammenführung.

Rechtlicher Rahmen

Unionsrecht

Rz. 3

Die Erwägungsgründe 2, 4, 6, 9 und 13 der Richtlinie 2003/86 bestimmen:

„(2) Maßnahmen zur Familienzusammenführung sollten in Übereinstimmung mit der Verpflichtung zum Schutz der Familie und zur Achtung des Familienlebens getroffen werden, die in zahlreichen Instrumenten des Völkerrechts verankert ist. Diese Richtlinie steht im Einklang mit den Grundrechten und berücksichtigt die Grundsätze, die insbesondere in Artikel 8 der [am 4. November 1950 in Rom unterzeichneten Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten] und der [Charta] anerkannt wurden.

(4) Die Familienzusammenführung ist eine notwendige Voraussetzung dafür, dass ein Familienleben möglich ist. Sie trägt zur Schaffung soziokultureller Stabilität bei, die die Integration Drittstaatsangehöriger in dem Mitgliedstaat erleichtert; dadurch wird auch der wirtschaftliche und soziale Zusammenhalt gefördert, der als grundlegendes Ziel der Gemeinschaft im Vertrag aufgeführt wird.

(6) Zum Schutz der Familie und zur Wahrung oder Herstellung des Familienleb...

Dieser Inhalt ist unter anderem im Deutsches Anwalt Office Premium enthalten. Sie wollen mehr?


Meistgelesene beiträge