Entscheidungsstichwort (Thema)
Vertragsverletzung eines Mitgliedstaats. Art. 259 AEUV. Unionsbürgerschaft. Art. 21 AEUV. Richtlinie 2004/38/EG. Recht der Unionsbürger, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten zu bewegen. Einreiseverbot in die Slowakische Republik für den Präsidenten Ungarns. Diplomatische Beziehungen zwischen den Mitgliedstaaten
Beteiligte
Tenor
1. Die Klage wird abgewiesen.
2. Ungarn trägt die Kosten.
3. Die Europäische Kommission trägt ihre eigenen Kosten.
Tatbestand
In der Rechtssache
betreffend eine Vertragsverletzungsklage nach Art. 259 AEUV, eingereicht am 8. Juli 2010,
Ungarn, vertreten durch M. Z. Fehér und E. Orgován als Bevollmächtigte,
Kläger,
gegen
Slowakische Republik, vertreten durch B. Ricziová als Bevollmächtigte,
Beklagte,
unterstützt durch
Europäische Kommission, vertreten durch A. Tokár, D. Maidani und S. Boelaert als Bevollmächtigte, Zustellungsanschrift in Luxemburg,
Streithelferin,
erlässt
DER GERICHTSHOF (Große Kammer)
unter Mitwirkung des Präsidenten V. Skouris, des Vizepräsidenten K. Lenaerts, der Kammerpräsidenten A. Tizzano (Berichterstatter), M. Ilešič und J. Malenovský, der Richter A. Borg Barthet, U. Lõhmus, J.-C. Bonichot sowie der Richterin C. Toader und der Richter J.-J. Kasel und M. Safjan,
Generalanwalt: Y. Bot,
Kanzler: R. Şereş, Verwaltungsrätin,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 1. Februar 2012,
nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 6. März 2012
folgendes
Urteil
Entscheidungsgründe
Rz. 1
Mit seiner Klageschrift beantragt Ungarn,
- festzustellen, dass die Slowakische Republik dadurch gegen ihre Verpflichtungen aus der Richtlinie 2004/38/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 über das Recht der Unionsbürger und ihrer Familienangehörigen, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten, zur Änderung der Verordnung (EWG) Nr. 1612/68 und zur Aufhebung der Richtlinien 64/221/EWG, 68/360/EWG, 72/194/EWG, 73/148/EWG, 75/34/EWG, 75/35/EWG, 90/364/EWG, 90/365/EWG und 93/96/EWG (ABl. L 158, S. 77) und aus Art. 21 Abs. 1 AEUV verstoßen hat, dass sie dem Präsidenten Ungarns, László Sólyom, am 21. August 2009 unter Berufung auf die Richtlinie 2004/38, aber ohne deren Bestimmungen zu beachten, die Einreise in ihr Hoheitsgebiet versagt hat;
- festzustellen, dass der bis zur Klageerhebung vertretene Standpunkt der Slowakischen Republik gegen das Recht der Europäischen Union, konkret gegen Art. 3 Abs. 2 EUV und Art. 21 Abs. 1 AEUV, verstößt, soweit sie es als mit der Richtlinie 2004/38 vereinbar ansieht, einem Vertreter Ungarns, wie dem Präsidenten dieses Staates, die Einreise in slowakisches Hoheitsgebiet zu versagen, und sich auf diese Weise die Möglichkeit erhält, dieses rechtswidrige Verhalten zu wiederholen;
- festzustellen, dass die Slowakische Republik das Unionsrecht missbräuchlich angewandt hat, als die staatlichen Behörden Präsident Sólyom am 21. August 2009 die Einreise in ihr Hoheitsgebiet versagt haben, und,
- falls der persönliche Anwendungsbereich der Richtlinie 2004/38 durch eine konkrete Vorschrift des Völkerrechts beschränkt werden könnte, den Umfang und die Auswirkungen solcher Ausnahmen zu nennen.
Rechtlicher Rahmen
Rz. 2
In Art. 5 Abs. 1 der Richtlinie 2004/38 heißt es:
„Unbeschadet der für die Kontrollen von Reisedokumenten an den nationalen Grenzen geltenden Vorschriften gestatten die Mitgliedstaaten Unionsbürgern, die einen gültigen Personalausweis oder Reisepass mit sich führen, und ihren Familienangehörigen, die nicht die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats besitzen und die einen gültigen Reisepass mit sich führen, die Einreise.
Für die Einreise darf vom Unionsbürger weder ein Visum noch ein gleichartiger Nachweis verlangt werden.”
Rz. 3
Kapitel VI („Beschränkungen des Einreise- und Aufenthaltsrechts aus Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit oder Gesundheit”) dieser Richtlinie enthält Art. 27, dessen erste beiden Absätze bestimmen:
„(1) Vorbehaltlich der Bestimmungen dieses Kapitels dürfen die Mitgliedstaaten die Freizügigkeit und das Aufenthaltsrecht eines Unionsbürgers oder seiner Familienangehörigen, ungeachtet ihrer Staatsangehörigkeit, aus Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit oder Gesundheit beschränken. Diese Gründe dürfen nicht zu wirtschaftlichen Zwecken geltend gemacht werden.
(2) Bei Maßnahmen aus Gründen der öffentlichen Ordnung oder Sicherheit ist der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zu wahren und darf ausschließlich das persönliche Verhalten des Betroffenen ausschlaggebend sein. Strafrechtliche Verurteilungen allein können ohne Weiteres diese Maßnahmen nicht begründen.
Das persönliche Verhalten muss eine tatsächliche, gegenwärtige und erhebliche Gefahr darstellen, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt. Vom Einzelfall losgelöste oder auf Generalprävention verweisende Begründungen sind nicht zulässig.”
Rz. 4
Art. 30 der Richtlinie schließlich sieht vor:
„(1) Entscheidungen nach ...