Entscheidungsstichwort (Thema)
Polizeiliche und justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen. Rahmenbeschluss 2002/584/JI. Europäischer Haftbefehl und Übergabeverfahren zwischen den Mitgliedstaaten. Art. 4 Nr. 6. Gründe, aus denen die Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls abgelehnt werden kann. Auslegung der Begriffe ‚Aufenthalt’ und ‚Wohnsitz’ im Vollstreckungsmitgliedstaat
Beteiligte
Tenor
Art. 4 Nr. 6 des Rahmenbeschlusses 2002/584/JI des Rates vom 13. Juni 2002 über den Europäischen Haftbefehl und die Übergabeverfahren zwischen den Mitgliedstaaten ist dahin auszulegen, dass
- eine gesuchte Person im Vollstreckungsmitgliedstaat „ihren Wohnsitz hat”, wenn sie dort ihren tatsächlichen Wohnsitz begründet hat, und sich dort „aufhält”, wenn sie infolge eines beständigen Verweilens von gewisser Dauer in diesem Mitgliedstaat Bindungen zu diesem Staat von ähnlicher Intensität aufgebaut hat, wie sie sich aus einem Wohnsitz ergeben;
- die vollstreckende Justizbehörde, um zu entscheiden, ob in einer konkreten Situation zwischen der gesuchten Person und dem Vollstreckungsmitgliedstaat Bindungen bestehen, die die Feststellung zulassen, dass diese Person unter den Begriff „sich aufhält” im Sinne des Art. 4 Nr. 6 des Rahmenbeschlusses fällt, eine Gesamtschau mehrerer objektiver Kriterien vorzunehmen hat, die die Situation dieser Person kennzeichnen und zu denen insbesondere die Dauer, die Art und die Bedingungen des Verweilens der gesuchten Person sowie ihre familiären und wirtschaftlichen Verbindungen zum Vollstreckungsmitgliedstaat gehören.
Tatbestand
In der Rechtssache
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 35 EU, eingereicht vom Oberlandesgericht Stuttgart (Deutschland) mit Entscheidung vom 14. Februar 2008, beim Gerichtshof eingegangen am 18. Februar 2008, in dem Verfahren betreffend die Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls gegen
Szymon Kozlowski
erlässt
DER GERICHTSHOF (Große Kammer)
unter Mitwirkung des Präsidenten V. Skouris, der Kammerpräsidenten P. Jann, C. W. A. Timmermans, A. Rosas, K. Lenaerts, G. Arestis und L. Bay Larsen (Berichterstatter), der Richter J. Makarczyk, P. Kūris, E. Juhász und A. Ó Caoimh sowie der Richterin P. Lindh und des Richters J.-C. Bonichot,
Generalanwalt: Y. Bot,
Kanzler: B. Fülöp, Verwaltungsrat,
aufgrund des Beschlusses des Präsidenten des Gerichtshofs vom 22. Februar 2008, das Vorabentscheidungsersuchen einem beschleunigten Verfahren gemäß Art. 104a Abs. 1 der Verfahrensordnung zu unterwerfen,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 22. April 2008,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
- von Herrn Kozlowski, vertreten durch Rechtsanwalt M. Stirnweiß,
- der deutschen Regierung, vertreten durch M. Lumma und J. Kemper als Bevollmächtigte,
- der tschechischen Regierung, vertreten durch M. Smolek als Bevollmächtigten,
- der dänischen Regierung, vertreten durch J. Bering Liisberg als Bevollmächtigten,
- der französischen Regierung, vertreten durch J.-C. Niollet als Bevollmächtigten,
- der italienischen Regierung, vertreten durch F. Arena, avvocato dello Stato,
- der niederländischen Regierung, vertreten durch C. Wissels und M. Noort als Bevollmächtigte,
- der österreichischen Regierung, vertreten durch C. Pesendorfer und T. Fülöp als Bevollmächtigte,
- der polnischen Regierung, vertreten durch M. Dowgielewicz und L. Rędziniak als Bevollmächtigte,
- der slowakischen Regierung, vertreten durch J. Čorba als Bevollmächtigten,
- der finnischen Regierung, vertreten durch J. Heliskoski als Bevollmächtigten,
- der Kommission der Europäischen Gemeinschaften, vertreten durch S. Grünheid und R. Troosters als Bevollmächtigte,
nach Anhörung des Generalanwalts
folgendes
Urteil
Entscheidungsgründe
Rz. 1
Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 4 Nr. 6 des Rahmenbeschlusses 2002/584/JI des Rates vom 13. Juni 2002 über den Europäischen Haftbefehl und die Übergabeverfahren zwischen den Mitgliedstaaten (ABl. L 190, S. 1, im Folgenden: Rahmenbeschluss).
Rz. 2
Dieses Ersuchen ergeht im Rahmen eines Verfahrens betreffend die Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls durch die Generalstaatsanwaltschaft Stuttgart (im Folgenden: deutsche vollstreckende Justizbehörde), der am 18. April 2007 vom Sad Okregowy w Bydgoszczy (Bezirksgericht Bydgoszcz, im Folgenden: polnische ausstellende Justizbehörde) gegen Herrn Kozlowski, einen polnischen Staatsangehörigen, ausgestellt wurde.
Rechtlicher Rahmen
Recht der Europäischen Union
Rz. 3
Der fünfte Erwägungsgrund des Rahmenbeschlusses lautet:
„Aus dem der Union gesetzten Ziel, sich zu einem Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts zu entwickeln, ergibt sich die Abschaffung der Auslieferung zwischen Mitgliedstaaten und deren Ersetzung durch ein System der Übergabe zwischen Justizbehörden. Die Einführung eines neuen, vereinfachten Systems der Übergabe von Personen, die einer Straftat verdächtigt werden oder wegen einer Straftat verurteilt worden sind, für die Zwecke der strafrechtlichen Verfolgung oder der...