Entscheidungsstichwort (Thema)
Vorabentscheidungsersuchen. Recht auf Familienzusammenführung. Nationale Regelung, wonach der Zusammenführende und der Ehegatte bereits zum Zeitpunkt der Einreichung des Antrags auf Familienzusammenführung das 21. Lebensjahr vollendet haben müssen. Unionsrechtskonforme Auslegung
Normenkette
Richtlinie 2003/86/EG Art. 4 Abs. 5
Beteiligte
Bundesministerin für Inneres |
Tenor
Art. 4 Abs. 5 der Richtlinie 2003/86/EG des Rates vom 22. September 2003 betreffend das Recht auf Familienzusammenführung ist dahin auszulegen, dass er einer nationalen Regelung nicht entgegensteht, wonach Ehegatten und eingetragene Partner das 21. Lebensjahr bereits zum Zeitpunkt der Antragstellung vollendet haben müssen, um als nachzugsberechtigte Familienangehörige gelten zu können.
Tatbestand
In der Rechtssache
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Verwaltungsgerichtshof (Österreich) mit Entscheidung vom 29. Mai 2013, beim Gerichtshof eingegangen am 20. Juni 2013, in dem Verfahren
Marjan Noorzia
gegen
Bundesministerin für Inneres
erlässt
DER GERICHTSHOF (Zweite Kammer)
unter Mitwirkung der Kammerpräsidentin R. Silva de Lapuerta (Berichterstatterin) sowie der Richter J. L. da Cruz Vilaça, G. Arestis, J.-C. Bonichot und A. Arabadjiev,
Generalanwalt: P. Mengozzi,
Kanzler: A. Calot Escobar,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
- von Frau Noorzia, vertreten durch Rechtsanwalt L. Binder,
- der österreichischen Regierung, vertreten durch C. Pesendorfer als Bevollmächtigte,
- der griechischen Regierung, vertreten durch M. Michelogiannaki als Bevollmächtigte,
- der Europäischen Kommission, vertreten durch M. Condou-Durande und W. Bogensberger als Bevollmächtigte,
nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 30. April 2014
folgendes
Urteil
Entscheidungsgründe
Rz. 1
Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 4 Abs. 5 der Richtlinie 2003/86/EG des Rates vom 22. September 2003 betreffend das Recht auf Familienzusammenführung (ABl. L 251, S. 12).
Rz. 2
Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits, den Frau Noorzia gegen die Bundesministerin für Inneres (im Folgenden: Bundesministerin) führt, weil diese den Antrag von Frau Noorzia auf Erteilung einer Niederlassungsbewilligung zum Zweck der Familienzusammenführung abgewiesen hat.
Rechtlicher Rahmen
Unionsrecht
Rz. 3
Art. 4 der Richtlinie 2003/86 bestimmt:
„(1) Vorbehaltlich der in Kapitel IV sowie in Artikel 16 genannten Bedingungen gestatten die Mitgliedstaaten gemäß dieser Richtlinie folgenden Familienangehörigen die Einreise und den Aufenthalt:
- dem Ehegatten des Zusammenführenden;
…
(5) Zur Förderung der Integration und zur Vermeidung von Zwangsehen können die Mitgliedstaaten vorsehen, dass der Zusammenführende und sein Ehegatte ein Mindestalter erreicht haben müssen, das höchstens auf 21 Jahre festgesetzt werden darf, bevor der Ehegatte dem Zusammenführenden nachreisen darf.
…”
Österreichisches Recht
Rz. 4
Aus der Vorlageentscheidung geht hervor, dass für den Ausgangsrechtsstreit das am 1. Januar 2006 in Kraft getretene Niederlassungs- und Aufenthaltsgesetz (BGBl. I, 100/2005, im Folgenden: NAG) maßgeblich ist.
Rz. 5
§ 46 Abs. 4 NAG in der auf den Sachverhalt des Ausgangsverfahrens anwendbaren Fassung (BGBl. I, 111/2010) sieht vor, dass Familienangehörigen von Drittstaatsangehörigen unter bestimmten Voraussetzungen eine Niederlassungsbewilligung zu erteilen ist.
Rz. 6
§ 2 Abs. 1 Ziff. 9 NAG definiert den Begriff des Familienangehörigen wie folgt:
„Familienangehöriger: wer Ehegatte oder minderjähriges lediges Kind, einschließlich Adoptiv- oder Stiefkind, ist (Kernfamilie); dies gilt weiters auch für eingetragene Partner; Ehegatten und eingetragene Partner müssen das 21. Lebensjahr zum Zeitpunkt der Antragstellung bereits vollendet haben; lebt im Fall einer Mehrfachehe bereits ein Ehegatte gemeinsam mit dem Zusammenführenden im Bundesgebiet, so sind die weiteren Ehegatten keine anspruchsberechtigten Familienangehörigen zur Erlangung eines Aufenthaltstitels”.
Ausgangsverfahren und Vorlagefragen
Rz. 7
Frau Noorzia wurde am 1. Januar 1989 geboren und ist afghanische Staatsangehörige. Am 3. September 2010 beantragte sie die Erteilung einer Niederlassungsbewilligung zum Zweck der Familienzusammenführung mit ihrem am 1. Januar 1990 geborenen Ehemann, der ebenfalls afghanischer Staatsangehöriger ist und in Österreich lebt.
Rz. 8
Mit Bescheid vom 9. März 2011 wies die Bundesministerin diesen Antrag mit der Begründung ab, dass der Ehemann von Frau Noorzia zwar am 1. Januar 2011, jedoch noch nicht zum Zeitpunkt der Antragstellung bei der österreichischen Botschaft in Islamabad (Pakistan) das 21. Lebensjahr vollendet habe, so dass eine besondere Voraussetzung für die Familienzusammenführung nicht erfüllt sei.
Rz. 9
Die Bundesministerin machte geltend, dass die Voraussetzung, wonach das 21. Lebensjahr zum Zeitpunkt der Antragstellung vollendet sein müsse, im Einklang mit der Richtlinie 2003/86 stehe.
Rz. 10
Das vorlegende Geri...