Entscheidungsstichwort (Thema)
Vorlage zur Vorabentscheidung. Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts. Einwanderungspolitik. Begriff „unbegleiteter Minderjähriger”. Recht auf Familienzusammenführung. Im Zeitpunkt seiner Ankunft im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats verheirateter minderjähriger Flüchtling. In diesem Mitgliedstaat nicht anerkannte Kinderehe. Zusammenleben mit dem Ehegatten, der sich rechtmäßig in diesem Mitgliedstaat aufhält
Normenkette
Richtlinie 2003/86/EG Art. 2. Buchst. f., Art. 10 Abs. 3 Buchst. a
Beteiligte
Tenor
Art. 10 Abs. 3 Buchst. a in Verbindung mit Art. 2 Buchst. f der Richtlinie 2003/86/EG des Rates vom 22. September 2003 betreffend das Recht auf Familienzusammenführung
ist dahin auszulegen, dass
ein unbegleiteter minderjähriger Flüchtling, der sich in einem Mitgliedstaat aufhält, nicht unverheiratet sein muss, um zum Zweck der Familienzusammenführung mit seinen Verwandten in gerader aufsteigender Linie ersten Grades die Rechtsstellung eines Zusammenführenden zu erlangen.
Tatbestand
In der Rechtssache
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Raad voor Vreemdelingenbetwistingen (Rat für Ausländerstreitsachen, Belgien) mit Entscheidung vom 6. April 2021, beim Gerichtshof eingegangen am 9. April 2021, in dem Verfahren
X, handelnd in eigenem Namen und in ihrer Eigenschaft als gesetzliche Vertreterin ihrer minderjährigen Kinder Y und Z,
gegen
Belgische Staat
erlässt
DER GERICHTSHOF (Dritte Kammer)
unter Mitwirkung der Kammerpräsidentin K. Jürimäe sowie der Richter M. Safjan, N. Piçarra, N. Jääskinen (Berichterstatter) und M. Gavalec,
Generalanwalt: M. Szpunar,
Kanzler: M. Ferreira, Hauptverwaltungsrätin,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 31. März 2022,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
- von X, handelnd in eigenem Namen und in ihrer Eigenschaft als gesetzliche Vertreterin ihrer minderjährigen Kinder Y und Z, vertreten durch J. Schellemans, K. Verhaegen und K. Verstrepen, Advocaten,
- der belgischen Regierung, vertreten durch M. Jacobs, C. Pochet und M. Van Regemorter als Bevollmächtigte im Beistand von D. Matray, S. Matray, Avocats, und von S. Van Rompaey, Advocaat,
- der Europäischen Kommission, vertreten durch C. Cattabriga und S. Noë als Bevollmächtigte,
nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 16. Juni 2022
folgendes
Urteil
Entscheidungsgründe
Rz. 1
Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 2 Buchst. f. und Art. 10 Abs. 3 Buchst. a der Richtlinie 2003/86/EG des Rates vom 22. September 2003 betreffend das Recht auf Familienzusammenführung (ABl. 2003, L 251, S. 12).
Rz. 2
Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen X, handelnd in eigenem Namen und in ihrer Eigenschaft als gesetzliche Vertreterin ihrer minderjährigen Kinder Y und Z, und dem Belgische Staat (Belgischer Staat) wegen der Ablehnung ihres Antrags auf ein Visum zum Zweck der Familienzusammenführung mit ihrer Tochter sowie der Ablehnung ihrer Anträge auf humanitäre Visa für Y und Z.
Rechtlicher Rahmen
Richtlinie 2003/86
Rz. 3
In den Erwägungsgründen 2 und 8 der Richtlinie 2003/86 heißt es:
„(2) Maßnahmen zur Familienzusammenführung sollten in Übereinstimmung mit der Verpflichtung zum Schutz der Familie und zur Achtung des Familienlebens getroffen werden, die in zahlreichen Instrumenten des Völkerrechts verankert ist. Diese Richtlinie steht im Einklang mit den Grundrechten und berücksichtigt die Grundsätze, die insbesondere in Artikel 8 der Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten und der Charta der Grundrechte der Europäischen Union anerkannt wurden.
…
(8) Der Lage von Flüchtlingen sollte wegen der Gründe, die sie zur Flucht gezwungen haben und sie daran hindern, ein normales Familienleben zu führen, besondere Aufmerksamkeit geschenkt werden. Deshalb sollten günstigere Bedingungen für die Ausübung ihres Rechts auf Familienzusammenführung vorgesehen werden.”
Rz. 4
Art. 1 dieser Richtlinie lautet:
„Ziel dieser Richtlinie ist die Festlegung der Bedingungen für die Ausübung des Rechts auf Familienzusammenführung durch Drittstaatsangehörige, die sich rechtmäßig im Gebiet der Mitgliedstaaten aufhalten.”
Rz. 5
Nach Art. 2 Buchst. f der Richtlinie bezeichnet der Ausdruck „unbegleiteter Minderjähriger”
„einen Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen unter 18 Jahren, der ohne Begleitung eines für ihn nach dem Gesetz oder dem Gewohnheitsrecht verantwortlichen Erwachsenen in einen Mitgliedstaat einreist, solange er sich nicht tatsächlich in der Obhut einer solchen Person befindet, oder Minderjährige, die ohne Begleitung im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats zurückgelassen werden, nachdem sie in diesen Mitgliedstaat eingereist sind.”
Rz. 6
Art. 4 Abs. 1, 2 und 5 der Richtlinie bestimmt:
„(1) Vorbehaltlich der in Kapitel IV sowie in Artikel 16 genannten Bedingungen gestatten die Mitgliedstaaten gemäß dieser Richtlinie folgenden Familienangehörigen die Einreise und de...