Entscheidungsstichwort (Thema)

Vorlage zur Vorabentscheidung. Umwelt. Abfälle. Aushubmaterial – Begriffe ‚ Abfall’ und ‚ Nebenprodukt’. Ende der Abfalleigenschaft

 

Normenkette

Richtlinie 2008/98/EG Art. 3 Nr. 1, Art. 5 Abs. 1, Art. 6 Abs. 1

 

Beteiligte

Porr Bau

Porr Bau GmbH

Bezirkshauptmannschaft Graz-Umgebung

 

Tenor

Art. 3 Nr. 1 und Art. 6 Abs. 1 der Richtlinie 2008/98/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 19. November 2008 über Abfälle und zur Aufhebung bestimmter Richtlinien

sind dahin auszulegen, dass

sie einer nationalen Regelung entgegenstehen, nach der unkontaminiertes Aushubmaterial, das nach nationalem Recht zur höchsten Qualitätsklasse gehört,

  • als „Abfall” einzustufen ist, selbst wenn sein Besitzer sich seiner weder entledigen will noch entledigen muss und dieses Material die in Art. 5 Abs. 1 dieser Richtlinie genannten Voraussetzungen für die Einstufung als „Nebenprodukt” erfüllt, und
  • die Abfalleigenschaft nur dann verliert, wenn es unmittelbar als Substitution verwendet wird und sein Besitzer Formalkriterien erfüllt hat, die für den Umweltschutz irrelevant sind, falls diese Kriterien die Wirkung haben, dass die Verwirklichung der Ziele dieser Richtlinie gefährdet wird.
 

Tatbestand

In der Rechtssache

betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Landesverwaltungsgericht Steiermark (Österreich) mit Entscheidung vom 2. April 2021, beim Gerichtshof eingegangen am 13. April 2021, in dem Verfahren

Porr Bau GmbH

gegen

Bezirkshauptmannschaft Graz-Umgebung

erlässt

DER GERICHTSHOF (Erste Kammer)

unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten A. Arabadjiev (Berichterstatter), des Vizepräsidenten des Gerichtshofs L. Bay Larsen in Wahrnehmung der Aufgaben eines Richters der Ersten Kammer, der Richter P. G. Xuereb und A. Kumin sowie der Richterin I. Ziemele,

Generalanwältin: L. Medina,

Kanzler: S. Beer, Verwaltungsrätin,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 23. März 2022,

unter Berücksichtigung der Erklärungen

  • der Porr Bau GmbH, vertreten durch Rechtsanwalt M. Walcher,
  • der österreichischen Regierung, vertreten durch F. Boldog, A. Kögl, A. Posch, J. Schmoll und E. Wolfslehner als Bevollmächtigte,
  • der Europäischen Kommission, vertreten durch S. Bourgois, C. Hermes und M. Ioan als Bevollmächtigte,

nach Anhörung der Schlussanträge der Generalanwältin in der Sitzung vom 22. Juni 2022

folgendes

Urteil

 

Entscheidungsgründe

Rz. 1

Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 6 Abs. 1 der Richtlinie 2008/98/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 19. November 2008 über Abfälle und zur Aufhebung bestimmter Richtlinien (ABl. 2008, L 312, S. 3, berichtigt in ABl. 2009, L 127, S. 24).

Rz. 2

Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen der Porr Bau GmbH (im Folgenden: Porr Bau) und der Bezirkshauptmannschaft Graz-Umgebung wegen deren Feststellung, dass auf landwirtschaftliche Flächen geschüttetes Aushubmaterial Abfall darstelle.

Rechtlicher Rahmen

Unionsrecht

Rz. 3

Wesentliche Zielsetzung der Richtlinie 75/442/EWG des Rates vom 15. Juli 1975 über Abfälle (ABl. 1975, L 194, S. 39) in der durch die Richtlinie 91/156/EWG des Rates vom 18. März 1991 (ABl. 1991, L 78, S. 32) geänderten Fassung (im Folgenden: Richtlinie 75/442) war gemäß ihrem dritten Erwägungsgrund der Schutz der menschlichen Gesundheit sowie der Umwelt gegen nachteilige Auswirkungen der Sammlung, Beförderung, Behandlung, Lagerung und Ablagerung von Abfällen. Die Richtlinie 75/442 wurde durch die Richtlinie 2006/12/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 5. April 2006 über Abfälle (ABl. 2006, L 114, S. 9) aufgehoben und ersetzt; letztere Richtlinie wurde ihrerseits durch die Richtlinie 2008/98 aufgehoben und ersetzt.

Rz. 4

In den Erwägungsgründen 6, 8, 11, 22 und 29 der Richtlinie 2008/98 heißt es:

„(6) Das oberste Ziel jeder Abfallpolitik sollte darin bestehen, die nachteiligen Auswirkungen der Abfallerzeugung und -bewirtschaftung auf die menschliche Gesundheit und die Umwelt zu minimieren. Die Abfallpolitik sollte auch auf die Verringerung der Nutzung von Ressourcen abzielen und die praktische Umsetzung der Abfallhierarchie fördern.

(8) … Darüber hinaus sollten die Verwertung von Abfällen sowie die Verwendung verwerteter Materialien zur Erhaltung der natürlichen Rohstoffquellen gefördert werden. …

(11) Die Abfalleigenschaft von nicht kontaminierten, ausgehobenen Böden und anderen natürlich vorkommenden Materialien, die an anderen Standorten verwendet werden als dem, an dem sie ausgehoben wurden, sollte nach Maßgabe der Abfalldefinition sowie der Bestimmungen über Nebenprodukte oder über das Ende der Abfalleigenschaft geprüft werden, die in dieser Richtlinie niedergelegt sind.

(22) … Zur Spezifizierung bestimmter Aspekte der Abfalldefinition sollte in dieser Richtlinie Folgendes präzisiert werden:

– Es sollte … festgelegt werden, wann bestimmte Abfälle nicht länger Abfälle sind, und zwar unter Zugrundelegung von Kriterien für das Ende der Abfalleigenschaft, die ein hohes Maß an Um...

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