Entscheidungsstichwort (Thema)
Vorlage zur Vorabentscheidung. Eilvorabentscheidungsverfahren. Polizeiliche und justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen. Europäischer Haftbefehl. Übergabeverfahren zwischen den Mitgliedstaaten. Vollstreckungsvoraussetzungen. Gründe, aus denen die Vollstreckung abgelehnt werden kann. Ausnahmen. Pflicht zur Vollstreckung. In Abwesenheit verhängte Strafe. Flucht der verfolgten Person. Recht auf Anwesenheit in der Verhandlung. Erfordernisse im Fall der Verurteilung in Abwesenheit. Prüfung bei der Übergabe der verurteilten Person
Normenkette
Rahmenbeschluss 2002/584/JI Art. 4a Abs. 1; Richtlinie (EU) 2016/343 Art. 8-9
Beteiligte
Generalstaatsanwaltschaft Hamburg |
Tenor
Art. 4a des Rahmenbeschlusses 2002/584/JI des Rates vom 13. Juni 2002 über den Europäischen Haftbefehl und die Übergabeverfahren zwischen den Mitgliedstaaten in der durch den Rahmenbeschluss 2009/299/JI des Rates vom 26. Februar 2009 geänderten Fassung ist dahin auszulegen, dass die vollstreckende Justizbehörde die Vollstreckung eines zur Vollstreckung einer Freiheitsstrafe oder einer freiheitsentziehenden Maßregel der Sicherung ausgestellten Europäischen Haftbefehls in einem Fall, in dem die betroffene Person ihre persönliche Ladung verhindert hat und aufgrund ihrer Flucht in den Vollstreckungsmitgliedstaat nicht persönlich zu der Verhandlung erschienen ist, nicht allein deshalb verweigern kann, weil sie keine Zusicherung erhalten hat, dass bei einer Übergabe dieser Person an den Ausstellungsmitgliedstaat ihr Recht auf eine neue Verhandlung im Sinne der Art. 8 und 9 der Richtlinie (EU) 2016/343 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 9. März 2016 über die Stärkung bestimmter Aspekte der Unschuldsvermutung und des Rechts auf Anwesenheit in der Verhandlung in Strafsachen gewahrt wird.
Tatbestand
In der Rechtssache
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Hanseatischen Oberlandesgericht Hamburg (Deutschland) mit Entscheidung vom 4. September 2020, beim Gerichtshof eingegangen am 7. September 2020, in dem Verfahren betreffend die Vollstreckung Europäischer Haftbefehle gegen
TR,
Beteiligte:
Generalstaatsanwaltschaft Hamburg,
erlässt
DER GERICHTSHOF (Vierte Kammer)
unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten M. Vilaras, der Richter N. Piçarra, D. Šváby und S. Rodin (Berichterstatter) sowie der Richterin K. Jürimäe,
Generalanwalt: E. Tanchev,
Kanzler: M. Krausenböck, Verwaltungsrätin,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 19. November 2020,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
- der Generalstaatsanwaltschaft Hamburg, vertreten durch J. Fröhlich als Bevollmächtigten,
- der deutschen Regierung, vertreten durch J. Möller, M. Hellmann und F. Halabi als Bevollmächtigte,
- der rumänischen Regierung, vertreten durch E. Gane, L.-E. Batagoi und A. Wellman als Bevollmächtigte,
- der polnischen Regierung, vertreten durch B. Majczyna und J. Sawicka als Bevollmächtigte,
- der Europäischen Kommission, vertreten durch C. Ladenburger, M. Wasmeier und S. Grünheid als Bevollmächtigte,
nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 10. Dezember 2020
folgendes
Urteil
Entscheidungsgründe
Rz. 1
Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung der Art. 8 und 9 der Richtlinie (EU) 2016/343 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 9. März 2016 über die Stärkung bestimmter Aspekte der Unschuldsvermutung und des Rechts auf Anwesenheit in der Verhandlung in Strafsachen (ABl. 2016, L 65, S. 1).
Rz. 2
Dieses Ersuchen ergeht im Rahmen eines Verfahrens zur Vollstreckung Europäischer Haftbefehle, die am 7. Oktober 2019 von der Judecătoria Deva (Gericht erster Instanz Deva, Rumänien) und am 4. Februar 2020 vom Tribunalul Hunedoara (Landgericht Hunedoara, Rumänien) ausgestellt wurden, in Deutschland zur Vollstreckung von Freiheitsstrafen, zu denen TR von rumänischen Gerichten in seiner Abwesenheit verurteilt wurde.
Rechtlicher Rahmen
Unionsrecht
Rahmenbeschluss 2002/584/JI
Rz. 3
In den Erwägungsgründen 1, 5 bis 7, 10 und 12 des Rahmenbeschlusses 2002/584/JI des Rates vom 13. Juni 2002 über den Europäischen Haftbefehl und die Übergabeverfahren zwischen den Mitgliedstaaten (ABl. 2002, L 190, S. 1) in der durch den Rahmenbeschluss 2009/299/JI des Rates vom 26. Februar 2009 (ABl. 2009, L 81, S. 24) geänderten Fassung (im Folgenden: Rahmenbeschluss 2002/584) heißt es:
„(1) Nach den Schlussfolgerungen des Europäischen Rates von Tampere vom 15. und 16. Oktober 1999, insbesondere in Nummer 35 dieser Schlussfolgerungen, sollten im Verhältnis der Mitgliedstaaten untereinander die förmlichen Verfahren zur Auslieferung von Personen, die sich nach einer rechtskräftigen Verurteilung der Justiz zu entziehen suchen, abgeschafft und die Verfahren zur Auslieferung von Personen, die der Begehung einer Straftat verdächtig sind, beschleunigt werden.
…
(5) Aus dem der [Europäischen] Union gesetzten Ziel, sich zu einem Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts zu entwickeln, ergibt sich die Absc...