Entscheidungsstichwort (Thema)
Asylpolitik. Justiz und Inneres. Grundrechte. Charta der Grundrechte. Vorlage zur Vorabentscheidung. Eilvorabentscheidungsverfahren. Grenzkontrollen, Asyl und Einwanderung. Einwanderungspolitik. Recht auf Familienzusammenführung. Stellung eines Antrags auf Einreise und Aufenthalt zum Zweck der Ausübung des Rechts auf Familienzusammenführung. Regelung eines Mitgliedstaats, nach der die Familienangehörigen des Zusammenführenden den Antrag persönlich bei der zuständigen diplomatischen Vertretung dieses Mitgliedstaats stellen müssen. Unmöglichkeit oder übermäßige Schwierigkeit, diese Vertretung aufzusuchen
Normenkette
Richtlinie 2003/86/EG Art. 5 Abs. 1; Charta der Grundrechte der Europäischen Union Art. 7, 24
Beteiligte
Tenor
Art. 5 Abs. 1 der Richtlinie 2003/86/EG des Rates vom 22. September 2003 betreffend das Recht auf Familienzusammenführung in Verbindung mit Art. 7 sowie Art. 24 Abs. 2 und 3 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union
ist dahin auszulegen, dass
er einer nationalen Regelung entgegensteht, nach der für die Stellung eines Antrags auf Einreise und Aufenthalt zum Zweck der Familienzusammenführung die Familienangehörigen des Zusammenführenden, namentlich eines anerkannten Flüchtlings, die für den Ort ihres Wohnsitzes oder ihres Aufenthalts im Ausland zuständige diplomatische oder konsularische Vertretung eines Mitgliedstaats auch dann persönlich aufsuchen müssen, wenn es für sie unmöglich oder übermäßig schwierig ist, sich zu dieser Vertretung zu begeben, wobei es diesem Mitgliedstaat unbenommen bleibt, das persönliche Erscheinen dieser Angehörigen in einem späteren Stadium des Verfahrens zur Beantragung der Familienzusammenführung zu verlangen.
Tatbestand
In der Rechtssache C-1/23 PPU
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Tribunal de première instance francophone de Bruxelles (französischsprachiges Gericht erster Instanz von Brüssel, Belgien) mit Entscheidung vom 2. Januar 2023, beim Gerichtshof eingegangen am selben Tag, in dem Verfahren
X,
Y,
A,gesetzlich vertreten durch X und Y,
B,gesetzlich vertreten durch X und Y,
gegen
État belge
erlässt
DER GERICHTSHOF (Dritte Kammer)
unter Mitwirkung der Kammerpräsidentin K. Jürimäe, des Präsidenten des Gerichtshofs K. Lenaerts in Wahrnehmung der Aufgaben eines Richters der Dritten Kammer sowie der Richter M. Safjan (Berichterstatter), N. Jääskinen und M. Gavalec,
Generalanwalt: G. Pitruzzella,
Kanzler: K. Hötzel, Verwaltungsrätin,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 1. März 2023,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
- – von X und Y sowie von A und B, gesetzlich vertreten durch X und Y, vertreten durch C. D’Hondt und P. Robert, Avocats,
- – der belgischen Regierung, vertreten durch M. Jacobs, C. Pochet und M. Van Regemorter als Bevollmächtigte im Beistand von S. Matray und C. Piront, Avocates,
- – der deutschen Regierung, vertreten durch J. Möller und R. Kanitz als Bevollmächtigte,
- – der spanischen Regierung, vertreten durch A. Gavela Llopis als Bevollmächtigte,
- – der französischen Regierung, vertreten durch B. Fodda und J. Illouz als Bevollmächtigte,
- – der niederländischen Regierung, vertreten durch M. K. Bulterman als Bevollmächtigte,
- – des Rates der Europäischen Union, vertreten durch R. Meyer und O. Segnana als Bevollmächtigte,
- – der Europäischen Kommission, vertreten durch A. Azéma und J. Hottiaux als Bevollmächtigte,
nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 9. März 2023
folgendes
Urteil
Entscheidungsgründe
Rz. 1
Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 5 Abs. 1 der Richtlinie 2003/86/EG des Rates vom 22. September 2003 betreffend das Recht auf Familienzusammenführung (ABl. 2003, L 251, S. 12), der Art. 23 und 24 der Richtlinie 2011/95/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Dezember 2011 über Normen für die Anerkennung und den Status von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Personen mit Anspruch auf internationalen Schutz, für einen einheitlichen Status für Flüchtlinge oder für Personen mit Anrecht auf subsidiären Schutz und für den Inhalt des zu gewährenden Schutzes (ABl. 2011, L 337, S. 9) sowie der Art. 7 und 24 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta).
Rz. 2
Es ergeht in einem Rechtsstreit zwischen Frau X und Herrn Y sowie ihren minderjährigen Kindern A und B (im Folgenden zusammen: Kläger des Ausgangsverfahrens) auf der einen und dem belgischen Staat auf der anderen Seite über dessen Weigerung, den Antrag von Frau X sowie den Kindern A und B auf Einreise und Aufenthalt zum Zweck der Familienzusammenführung zu registrieren.
Rechtlicher Rahmen
Unionsrecht
Richtlinie 2003/86
Rz. 3
Die Erwägungsgründe 2 und 8 der Richtlinie 2003/86 lauten:
„(2) Maßnahmen zur Familienzusammenführung sollten in Übereinstimmung mit der Verpflichtung zum Schutz der Familie und zur Achtung des Fami...